Perspektive auf den Kopf gestellt



Predigt am 10.05.2020 zu 2. Chronik 5, 2-14


Ihr Lieben,
vor ein paar Wochen schon ging es mir so, dass ich Filme mit ganz anderen Augen gesehen und auch Bücher ganz anders gelesen habe. In einem Krimi wurde von vielen Menschen erzählt, die durch die Londoner Innenstadt strömten und von einer Gruppe Jugendlicher, die sich eng zusammendrängte, um sich gemeinsam etwas anzusehen. Mir schoss sofort der Gedanke durch den Kopf: Das dürfen die doch gar nicht! Die Beschreibung dieser Stadtszene kam mir total unwirklich vor, weil unsere Realität im Moment einfach eine ganz andere ist.

Auch Bibeltexte lese ich inzwischen ganz anders, weil das Coronakrisenleben seine Spuren hinterlässt.

Ich habe über den 1. Mai ganz viel Nachrichten geschaut und noch mehr gelesen, um darüber informiert zu sein, was denn jetzt alles wieder erlaubt ist und unter welchen Auflagen.
Gottesdienste dürfen wieder gefeiert werden. Aber nur mit begrenzter Personenzahl. Dann kamen unter der Woche noch mehr Informationen zum Thema Gottesdienst. In einer Email alleine acht PDF Dateien und eine Excel Tabelle. Die Excel Tabelle informierte uns, welche Kirchen in unserem Kirchenkreis wie viele Quadratmeter an Innenraumfläche haben und wie viele Menschen demzufolge in der jeweiligen Kirche Gottesdienst feiern dürfen. Dazu gab es eine Handlungsempfehlung der Nordkirche, die revidierte Verordnung des Landes Schleswig-Holstein und Informationen für Kirchenmusikerinnen und -musiker. Nachdem ich mich durch diese Flut von Informationen durchgewühlt hatte, habe ich auch den Bibeltext für heute total anders gelesen, als ich es vor ein paar Monaten noch getan hätte. Meine perspektive ist total auf den Kopf gestellt.

Ich will euch mal an ein paar Beispielen zeigen, was ich meine.
Hintergrund des Bibeltextes ist die Einweihung des Tempels, den König Salomo hat bauen lassen und der nun fertig ist. Zur Tempeleinweihung soll es ein großes fest geben.

In Vers 3 unseres Bibeltextes steht dann: „Alle Männer und Frauen Israels kamen im siebten Monat zum Fest beim König zusammen“. 
Das wäre bei uns heute gar nicht möglich, weil Großveranstaltungen bis Ende August komplett verboten sind.

In Vers 4 heißt es:
„Alle Ältesten Israels kamen.“ 
Geht gar nicht! Risikogruppe! Zwar handelt es sich hierbei in erster Linie um ein Amt und nicht um eine Altersbestimmung, aber man kann schon davon ausgehen, dass es sich bei den Ältesten tatsächlich auch um ältere Semester handelte, weil man denen viel Lebenserfahrung und Weisheit nachsagte.

Vers 5 erzählt uns:
„Und sie brachten den Schrein, das Zelt der Begegnung und alle geheiligten Geräte, die sich im Zelt befanden, hinauf.“ 
Das wäre bei uns zwar nicht verboten, aber empfohlen ist, liturgische Gegenstände wegen der Ansteckungsgefahr nach Möglichkeit nicht zu berühren.

In Vers 7 steht:
„Und die Priester brachten den Schrein des Bundes des Ewigen an seinen Ort, in den innersten Raum des Hauses, ins Allerheiligste.“ 
Aber nicht, ohne dass sie vorher registriert werden, damit man die Infektionskette nachverfolgen kann!

Und dann Musik und Gesang: Im Moment noch ein absolutes No-Go. Blasinstrumente sollen nicht eingesetzt werden und gesungen werden darf auch nicht, weil dabei Aerosole in die Luft gelangen, in denen sich ganz viele Viren befinden. Total hohes Ansteckungsrisiko! 

Damals, zur Einweihung des Tempels musste man sich über all das noch keine Gedanken machen. Es durfte mit vielen Menschen gefeiert werden, niemand musste sich registrieren lassen oder seine Hände desinfizieren. Und es wurde ordentlich Musik gemacht. Es wurden Danklieder gesungen. Heute dürfen wir das nicht. Ausgerechnet am Sonntag Kantate! Für alle Nicht-Lateiner unter uns: Kantate kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „singt!“
Und singen ist gerade das, was wir in einer Kirche unter keinen Umständen tun sollen, weil wir damit andere Menschen in Gefahr bringen.

Übrigens hat auch da ein Perspektivwechsel stattgefunden. Es wurde sich ja in der Vergangenheit durchaus darüber geklagt, dass die Leute im Gottesdienstbeinfach nicht mehr mitsingen. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass sie die Lieder nicht kennen, oder dass ihnen einfach nicht nach singen zumute ist. Aber jetzt ist plötzlich alles anders: Jetzt darf auf einmal nicht während eines Gottesdienstes gesungen werden. Einige sind vielleicht erleichtert, weil sie nun nicht mehr zum Singen genötigt werden, obwohl sie eigentlich keine Lust dazu haben. Aber anderen geht es wie mir: Sie vermissen das Singen in der Kirche ohne Ende.

Für mich ist es zum Glück nicht ganz so schlimm, weil wir am Sonntag Kantate noch keinen Gottesdienst in der Kirche feiern. Das läuft noch digital und gesungen wird im Internet nicht, weil das sonst unter Umständen mit den Urheberrechten und der GEMA Probleme gibt. 
Wir fangen mit den „analogen“ Gottesdiensten erst zu Pfingsten wieder an, weil wir erst in Ruhe ein Hygiene Konzept dafür entwickeln müssen. Aber in anderen Kirchen wird heute schon wieder Gottesdienst gefeiert. Ohne Gesang. Kein Loblied ist zu hören, wie damals von den Israeliten zur Eröffnung des Tempels. Oder wie damals von den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern am letzten Weihnachten in unseren Kirchen.

Das Nicht-Singen-Dürfen alleine ist schon frustrierend genug. Aber es macht uns dazu wieder einmal deutlich, was wir uns auch sonst alles verweigern müssen, um unsere Mitmenschen zu schützen. Es stößt uns ganz brutal auf die unglaublich vielen anderen Einschränkungen, die unglaublich traurig machen können. Da kann einem ganz schnell jedes Durchhaltevermögen abhandenkommen.

Aber: Der Bibeltext erinnert uns nicht nur an das, was wir alles nicht dürfen, was wir alles nicht haben, auf was wir alles verzichten müssen.
Der Bibeltext zeigt uns auch, was noch da ist.

Es gibt da nämlich etwas, das viel, viel wichtiger ist als liturgische Gegenstände, ausgelassene Feiern mit vielen Menschen oder Musik und Gesang. Was das ist, steht in dem letzten Satz unseres Bibeltextes. In Vers 13 und 14 heißt es:

„da erfüllte eine Wolke das Haus, das Haus des Ewigen. Die Priester aber konnten wegen der Wolke ihren Dienst nicht antreten, denn die Gegenwart des Ewigen erfüllte das Haus der Gottheit.“

Die Gegenwart des Ewigen erfüllte das Haus der Gottheit! Das tat sie damals, als die Israeliten den Tempel einweihten, und dabei war es völlig egal, dass die Priester ihren Dienst nicht antreten konnten. Hauptsache Gott war da. Die Gegenwart des Ewigen erfüllt auch heute noch die Räume: Überall da, wo schon wieder in den Kirchen unter den ganzen Beschränkungen und Auflagen Gottesdienst gefeiert wird. In all den Kirchen, in denen heute nicht gesungen wird, erfüllt trotzdem die Gegenwart des Ewigen das Haus Gottes! Und genauso überall da, wo Gottesdienste im Internet gestreamt werden ist Gott gegenwärtig, ist Gott da. Und Gott ist auch dann gegenwärtig, wenn Pastorinnen und Priester ihren Dienst gar nicht oder nur mit massiven Einschränkungen verrichten können.

„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ heißt es im Matthäus Evangelium in Kapitel 18. Also erfüllt Gottes Gegenwart auch unsere Wohnzimmer und Küchen, oder wo auch immer ihr vor dem Fernseher oder in sozialen Netzwerken Gottesdienst feiert. Das Wohnzimmer wird in dem Moment zum Haus der Gottheit. Und ob wir singen oder nicht: Da, wo wir Gottesdienst feiern, ist Gott. Das kann in einer Kirche sein oder auch in einer Küche. Wir sehen: Für Gott gilt das Kontaktverbot nicht.

Und das ist etwas unglaublich Tröstliches, gerade in dieser Zeit: Gott ist da! Völlig unabhängig davon, wie viele Menschen in einer Kirche zusammenkommen dürfen. Gott ist da, völlig unabhängig davon wie viele Leute sich im Internet live an einem Gottesdienst beteiligen. Gott ist heute morgen bei uns, wo und wie auch immer wir Gottesdienst feiern. Gott ist bei uns, wenn uns Ängste und Unsicherheit darüber quälen, wie es wohl weitergehen wird. Gott ist bei uns, auch wenn wir keine Loblieder in der Kirche singen. Gott ist bei uns, wenn wir ganz alleine zu Hause singen und furchtbar traurig darüber sind. Gott ist immer noch bei uns, wenn wir wieder aus voller Kehle gemeinsam in der Öffentlichkeit singen dürfen.

Gott ist bei uns. Und das ist das, worauf es ankommt. 



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