Systemrelevant




Predigt am 03.05.2020 zu Johannes 15, 1-8


Ihr Lieben,

am Feigenbaum im Pastoratsgarten sind schon die ersten kleinen Feigen zu sehen. Der Baum hat zwar noch kein einiges Blatt, aber dafür kommen die Früchte schon. Skurril! Aber es ist eben noch nicht so ganz richtig Frühling hier. Wenigstens kann ich mich jetzt schon auf leckere Feigen im Sommer freuen. Es sei denn, ich kappe die Zweige, an denen die kleinen Feigen hängen. Dann gibt‘s im Sommer keine Feigen zum Nachtisch, denn dann vertrocknet der Zweig samt den Früchten dran. Wenn ich den Zweig vom Baum trenne, dann wird die kleine Feigen nicht weiterwachsen und reif werden. 

Dasselbe gilt für Äpfel, Birnen, Kirschen oder für die Weintrauben, von denen der Bibeltext spricht. Wenn wir die Zweige vom Baum trennen, oder die Reben vom Weinstock, dann war‘s das mit den Früchten. Und dann ist auch der Zweig im Grunde wertlos. Er erfüllt seinen Zweck ja nicht mehr. Was soll man auch mit einem vertrockneten Zweig? Der ernährt ja niemanden mehr. Also: Wegschmeißen!

Das Ganze ist natürlich im übertragenen Sinn gemeint. Jesus benutzt hier ein Bild, um den Menschen zu sagen: Bleibt an mir dran, damit ihr Frucht bringt, damit ihr euren Zweck erfüllt, damit aus euch das wird, wozu ihr bestimmt seid.

So weit, so gut. Aber wenn wir das Ganze mal umdrehen, dann hört sich das nicht mehr so gut an:
Wenn wir nämlich nicht mit Christus verbunden bleiben, werden keine Früchte tragen, sondern vertrocknen. Und dann werden wir weggeworfen, weil keiner Verwendung für vertrocknete Reben hat, die keine Weintrauben produzieren.

Was bedeutet das jetzt? Wir sollen ja nicht wirklich Weintrauben produzieren. Oder Feigen. Die Frage ist: Was sind die Früchte, die wir gerade bringen sollen? In jedem Fall ist es etwas, das andere Menschen ernährt, würde ich sagen. Oder, um noch weiter zu gehen: Etwas, das andere Menschen am Leben hält. Denn dafür ist die Nahrung ja da. Ohne etwas zu essen verhungern und sterben wir. Tja, und wenn wir nicht in der Lage sind, andere Menschen in irgendeiner Form zu ernähren und am Leben zu halten, dann taugen wir nichts. Dann werden wir weggeworfen und verbrannt.

Das sind harte Worte! Aber dazu komme ich noch.

Ich habe zu diesem Ansatz ganz viele Gedanken im Kopf, die ich gerne alle der Reihe nach mit euch durchgehen möchte.

1. „Systemrelevant“ hört und liest man gerade überall.

Das Erste, was mir in den Kopf schoss, als ich über das Fruchtbringen nachdachte, war: Systemrelevanz! Was heute Frucht bringt, sind Menschen, die systemrelevante Berufe ausüben: zum Beispiel Ärzte und Ärztinnen, Müllmänner und Müllfrauen.

Feigen (oder Weintrauben, oder anderes Obst) sind systemrelevant, weil sie die Menschen am Leben halten. Die eben genannten Berufsgruppen sind systemrelevant, weil sie genau dasselbe tun: Sie halten das System am Leben und damit die Menschen, die zu diesem System gehören.

Der Südwestrundfunk liefert folgende Definition: „Systemrelevante Berufe oder auch Unternehmen sind so definiert, dass sie für die Daseinsvorsorge oder zur Bekämpfung der Pandemie durch das Coronavirus SARS-CoV-2 wichtig sind. Ohne sie würde die Gesellschaft nicht funktionieren – also, wenn wir zum Beispiel keinen Strom hätten oder keine Lebensmittel im Supermarkt.“ 

Wenn wir also heute fragen, welche Art von Früchten wir denn tragen sollten, dann wäre unsere Gesellschaft der Meinung, dass es diese sind:
- Dafür sorgen, dass wir alle gesund sind
- Nach einem Impfstoff gegen das Corona Virus forschen
- ein Heilmittel finden
- den Krankenhausbetrieb am Laufen halten
- den Müll abfahren
- Abwasser entsorgen
- die Versorgung mit Lebensmitteln am Laufen halten
- die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten 
- dafür sorgen, dass wir Strom, Wasser und Wärme haben

Das sind die Feigen, Weintrauben, Äpfel und Birnen in der Coronakrisenzeit.

2. Die Kirche ist nicht systemrelevant (findet die Gesellschaft).

Was in der Aufzählung nicht auftaucht, ist die Kirche.
Ja, ich gebe zu, dass es für mich als Pastorin schon ein ziemlicher Schlag ins Kontor ist, zu erkennen, dass ich nicht systemrelevant bin. Jedenfalls nicht gerade jetzt und nicht für unsere Gesellschaft. Unsere Gesellschaft würde sagen: Du bringst keine Frucht, dich brauchen wir nicht, weg mit dir.
(Bei meinem Mann ist das übrigens anders, denn der versorgt die Insel mit Lebensmitteln – oder hilft zumindest dabei. Er ist tatsächlich systemrelevant)


3. Die Kirche ist doch systemrelevant (finde ich).

Die Kirche trägt ja schon irgendwie zur Daseinsvorsorge bei. Stichwort Seelsorge! Wir tragen unseren Teil dazu bei, dass die Seelen der Menschen gesund bleiben. Gesundheit ist schließlich nicht nur auf den Körper beschränkt, sondern schließt die Seele und den Geist mit ein.
Und im Grunde sind wir auch mit anderen Dingen systemrelevant, denn wir liefern der Gesellschaft wichtige Werte wie die Menschenwürde oder der Schutz des Lebens zum Beispiel. Wird die Menschenwürde nicht geachtet und wird das Leben nicht geschützt, dann funktioniert ein System auf Dauer nicht. Also sind wir doch systemrelevant für die Gesellschaft.

4. Viele sind systemrelevant (findet Gott).

Die wichtigere Frage ist tatsächlich: Was ist für Gott systemrelevant?
Dazu müssen wir erstmal rausfinden, was Gott eigentlich für ein System hat. Was nicht schwer ist, wenn wir von dem Grundsatz ausgehen, dass Gott die Liebe ist. Dann ist alles, was der Liebe Ausdruck verleiht, Teil des Systems: Annahme, Offenheit, Vergebung, Versöhnung, Frieden, oder Gerechtigkeit, um nur ein paar zu nennen.
Alle von uns, die es schaffen, das zu leben, sind also für Gott systemrelevant.
Und die, die das nicht schaffen, werden weggeworfen und verbrannt. So!


5. Wer nicht systemrelevant ist, wird weggeworfen. (Findet Gott das wirklich?)

Ich muss zugeben, dass ich so meine Schwierigkeiten mit diesem Gottesbild habe.
Ich glaube nämlich nicht, dass Gott uns einfach so wegwirft, wenn wir es mal nicht schaffen, die christlichen Weintrauben, Feigen, Birnen, Äpfel oder sonstwas zu produzieren. Ich glaube nicht, dass Gott uns einfach so wegwirft, wenn wir in unserem christlichen Handeln versagen. Was übrigens schneller der Fall ist, als wir vielleicht glauben. Ich selber halte mich nicht für einen schlechten Menschen, aber auch mir fällt das mit der Gerechtigkeit oder dem Frieden manchmal verdammt schwer. Ich bin manchmal ganz schön auf meinem persönlichen Ego-Trip. Es gibt so einige Bereiche, in denen ich als Christin auf ganzer Linie versage. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Gott mich dafür wegwerfen würde.

Ich denke, Jesus will mit seinem Beispiel deutlich machen, dass wir unsere Systemrelevanz nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen. Für Gott systemrelevant zu sein, ist nicht beliebig. Ich kann nicht sagen: „Heute habe ich gerade mal keine Lust, mir Gedanken um das Wohlergehen der anderen zu machen. Morgen wieder.“ Wenn wir keine Lust haben, Früchte zu produzieren, also Gutes zu tun, dann wird das Konsequenzen haben., weil Gott immer irgendwie für Gerechtigkeit sorgt.

Das ist das Eine. Das Andere ist der dringende Hinweis: Bleibt an Jesus Christus dran! 
Für mich macht das total Sinn, denn wenn ich mit Jesus Christus verbunden bleibe, dann fällt es mir doch viel, viel leichter, Annahme, Offenheit, Vergebung, Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit zu leben! Wenn ich an ihm dranbleibe, dann weiß ich nicht nur, wie das funktioniert, weil er’s vorgemacht hat, sondern ich bekomme auch ganz viel Motivation, diese Dinge zu leben. Jesus sagt schließlich nicht nur WIE wir es tun müssen, sondern auch WARUM. Also: Wenn ich an Jesus Christus dranbleibe, dann klappt das auch mit dem Früchteproduzieren. So wie die Reben Weintrauben produzieren, wenn sie am Weinstock dranbleiben. So, wie die Zweige Feigen produzieren, wenn sie an meinem Feigenbaum dranbleiben.

So, jetzt habe ich euch erzählt, warum Jesus aus meiner Sicht das Nicht-Frucht-Bringen so dramatisiert. Aber ich habe euch noch nicht verraten, warum ich trotzdem nicht glaube, dass Gott uns einfach so wegwirft, wenn wir versagen.

Hier ist der Grund. Eigentlich sind es sogar zwei:

Erstens ist Gott ein Gott der Gnade und Vergebung.
Zweitens ist Gott die Liebe. Und damit sind wir alle am Ende systemrelevant: Weil. Wir. Von Gott. Geliebt sind.

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