Loslassen


(Predigt vom 14.10.2018 zu 1. Korinther 7, 29-31)

Ihr Lieben,

Ich habe eine Art Tagebuch mit dem Titel „Fragen und Antworten“. Dieses Tagebuch wird über 5 Jahre geführt und zu jedem Tag des Jahres gibt es eine zu beantwortende Frage. Eine dieser Fragen lautete: Worauf kannst du nicht verzichten? Ich habe geantwortet: Auf meinem Mann und auf mein Handy. 🙈

Auf mein Handy kann ich deshalb nicht verzichten, weil es mir hilft mit anderen Menschen zu kommunizieren, aber auch, weil es Adressen, Kontaktdaten, Telefonnummern, Kalender, Einkaufsliste, Bibel, ToDo Listen, Kochrezepte, Bedienungsanleitungen, Wettervorhersage, Nachrichten, Gesundheitstipps, Fotos, Fahrpläne, ja sogar Bordkarten für‘s Flugzeug enthält. Für den Island Urlaub haben wir am Abend vor dem Abflug tatsächlich über das Internet eingecheckt und uns die Bordkarten per SMS aufs Handy schicken lassen. Man zeigt am Flughafen dann nicht mehr seine Bordkarte aus Papier vor, sondern zückt das Handy. Es gibt noch so einige wichtige Dinge mehr, die auf meinem Handy zu finden sind oder zu denen ich über das Handy Zugang habe. Smartphones sind ja heute nicht nur zum Telefonieren da.

Ohne mein Handy wäre ich verloren!

Meine Handyabhängigkeit erinnert mich an einen Film aus den 80ern: Filofax.
Ein sogenanntes Filofax ist ein Terminplaner in Ringbuchform. Einige von euch kennen diese Terminplaner vielleicht noch, bzw. nutzen sie noch. In dem Film verliert Spencer Barnes, ein hochrangiger Angestellter einer Werbefirma, sein Filofax. 
In diesem Filofax stehen nicht nur Termine, sondern es beinhaltet fast das ganze Leben von Spencer Barnes: Telefonnummern, Passwörter (zum Beispiel das für die Alarmanlage seines Hauses), Kreditkarten, Ausweis und, und, und. Ohne sein Filofax ist Spencer total aufgeschmissen. Er kann ja nichtmal seine Identität beweisen.

So geht es mir mit meinem Handy. Da ist alles Wichtige drin und wäre es weg, dann wäre das eine mittelschwere Katastrophe.

Wäre mein Mann weg, dann wäre das ebenfalls eine mittelschwere Katastrophe! Nein, keine mittelschwere, sondern eine ganz schwere Katastrophe!

Meinem Mann kann ich meine ganze Liebe entgegenbringen. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne einen Menschen zu sein, den ich lieben kann. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne diesen Menschen zu sein, mit dem ich alles teilen kann: Hobbies, Reisen, den Alltag oder einfach nur Zeit. Mein Mann unterstützt mich, baut mich auf, wenn ich schlecht drauf bin, lacht mit mir, ärgert sich mit mir, weint mit mir, ist frustriert mit mir, nimmt mir Dinge ab, von denen er weißt, dass ich sie nicht gerne tue und noch vieles mehr. Würde man ihn mir wegnehmen, dann wäre das, als würde man einen Teil von mir amputieren. Ohne meinen Mann wäre ich noch verlorener als ohne Handy!

Ich wäre ziemlich schlecht dran ohne mein Handy und ohne meinen Mann. Deshalb würde ich beides nicht hergeben wollen. Nun kommt aber Paulus und sagt: Lebe so, als hättest du gar kein Handy! Lebe so, als hättest du gar keinen Mann!

Meiner Meinung ist es aber nicht Paulus‘ Absicht, uns zum Verzicht zu animieren. Es geht nicht darum, aufs Handy zu verzichten. 
Es geht auch nicht darum, auf die Menschen in unserem Leben zu verzichten. Es geht nicht darum, auf die Liebe zu verzichten. 
Paulus‘ Absicht damals war es, den Menschen zu seiner Zeit deutlich zu machen, dass es nicht gut ist, sich zu sehr an gewisse Dinge zu klammern, egal ob materielle oder beziehungstechnische oder andere Sachen, die das Leben der Menschen bestimmen könnten. Was passiert, wenn Dinge zu sehr unser Leben bestimmen, sehen wir in dem Film „Filofax“. 

Paulus sagt nicht: Verzichtet auf alles. Er sagt: Klammert euch nicht zu sehr an das, was ihr habt. Das ist ein Unterschied. Paulus schreibt wörtlich: „Und wer die Dinge dieser Welt benutzt, soll gut auf sie verzichten können.“ KÖNNEN ist hier das Stichwort. Er sagt nicht, dass die Menschen auf die Dinge dieser Welt verzichten MÜSSEN. Aber können. Ihnen also nicht zu viel Bedeutung beimessen.

Nun gibt es allerdings einen gravierenden Unterschied zwischen den Christinnen und Christen von damals und uns heute: Die Christinnen und Christen zu Paulus‘ Zeit sind noch davon ausgegangen, dass Christus zu ihren Lebzeiten wiederkommt. Sie sind davon ausgegangen, dass die Welt, so wie sie sie kennen, bald untergeht. Da macht es natürlich total Sinn, sich nicht an Dinge zu klammern, die bald nicht mehr wichtig sind, die bald nicht mehr existieren.

Wir heute rechnen nicht mehr unbedingt damit, dass Christus noch zu unseren Lebzeiten wiederkommt, obwohl das durchaus sein könnte. Die Bibel sagt uns jedenfalls an verschiedenen Stellen, dass wir darauf vorbereitet sein sollen. Aber da Christus sich die letzten 1990 Jahre nicht hat blicken lassen, ist die Wahrscheinlichkeit doch eher gering, dass er es ausgerechnet jetzt tut.

Damit ist Paulus‘ Anregung zum Loslassen aber nicht hinfällig. Ich denke, dass das Loslassen auch für uns heute gut ist, selbst wenn die Umstände andere sind. Denn wenn wir es schaffen loszulassen, dann schaffen wir es, unser Leben gelassen zu leben. Loslassen fördert Gelassenheit.

Wir können Menschen loslassen, die aus unserem Leben gehen - durch Trennung oder Tod. Wir können loslassen, was unser Leben zu bestimmen scheint: Termine, Anforderungen, Aufgaben, Lebensentwürfe und auch materielle Dinge.

Wenn wir uns nicht mehr an unsere Terminplaner, unser Einkommen oder unsere Handys klammern, dann leben wir viel entspannter. Dann fallen uns plötzlich die Dinge auf, die im Grunde viel wichtiger sind, als das, was dafür sorgt, dass unser Leben funktioniert und dass wir in der Gesellschaft funktionieren. 

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich will am Ende meines Lebens nicht sagen können: Ich habe gut funktioniert. Ich will auch nicht, dass andere so etwas über mich sagen. Das wäre eine ziemlich müllige Grabinschrift: Sie hat immer gut funktioniert.

Viel schöner würde ich einen Satz finden wie: Sie hat ein kleines bisschen die Welt verändert.Selbst der Satz „Sie war ein liebevoller Mensch“wäre für mich in Ordnung. Schön würde ich finden: Sie hat Licht in die Dunkelheit gebracht.

Solche Dinge kann ich problemlos tun, ohne Terminplaner, ohne Handy, ohne modisch gekleidet zu sein oder den neuesten Haarschnitt zu haben. Und so hart das jetzt auch klingt: Auch ohne die Menschen, die ich liebe. Nein, natürlich möchte ich nicht ohne diese Menschen sein. Aber mich zu sehr an sie klammern ist auch nicht gut. Ich habe Menschen erlebt, die nach dem Tod eines / einer geliebten Angehörigen vor aller Augen verwelkt sind. Ihr Leben hatte ohne den Partner / die Partnerin, das Kind, den Elternteil, den Freund / die Freundin für sie keinen Sinn mehr. Sie hatten sich so sehr an einen Menschen geklammert, dass ein Leben ohne diesen Menschen nicht möglich war. 
Wenn wir uns an etwas oder jemanden klammern, dann werden wir von der Angst beherrscht, dass man uns dieses etwas oder diesen Menschen wegnimmt. Ich für meinen Teil will nicht, dass Angst mein Leben bestimmt. Wenn das der Fall ist, dann bin ich das absolute Gegenteil von gelassen: Dann bin ich verbissen, verkrampft, unruhig, nervös, ungeduldig. Das tut mir nicht gut. Das tut keinem Menschen gut. Und so kann niemand ein sinnerfülltes Leben führen, weil wir uns nur noch auf uns selbst konzentrieren können und nicht mehr auf die Welt um uns herum. So können wir uns nicht mehr auf unsere Beziehung zu Gott konzentrieren, denn Gott soll mein Leben bestimmen und nicht die Angst, dass mir etwas weggenommen wird.

Deshalb sagt Paulus zu uns: Lass los! 

Es geht, wie gesagt, nicht um Verzicht. Es geht nicht darum, niemanden in unser Leben und unser Herz zu lassen. Aber es geht darum, dass wir uns bewusst machen, dass es diese Verbindung irgendwann nicht mehr gibt. Zumindest im Hier und Jetzt. Das kann passieren, weil plötzlich die Welt untergeht, weil Christus wiederkommt und unsere Welt total umkrempelt. Das kann auch passieren, weil Lebenswege auf einmal in unterschiedliche Richtungen verlaufen, weil Menschen sich trennen, oder auch weil Menschen sterben.

Was heißt das für mich? Dass ich mein Smartphone ruhig eine Hilfe in meinem Alltag sein lassen darf. Dass für mich aber auch nicht die Welt untergeht, wenn ich keins habe (weil es mir jemand geklaut hat oder weil es mir ins Klo gefallen ist). Es heißt ebenfalls, dass ich sehr wohl lieben darf, dass ich es genießen darf, wunderbare Menschen in meinem Leben zu haben. Dass für mich aber auch nicht die Welt untergeht, wenn Wege sich trennen und Beziehungen auseinandergehen (egal ob in einer Freundschaft oder Partnerschaft oder Familie). Damit will ich nicht sagen, dass wir nicht traurig sein dürfen. Trauer über Verlust ist gut und wichtig, um den Verlust zu verarbeiten. 
Aber irgendwann kommt auch der Punkt, an dem ich loslassen muss, wenn ich meinem Leben weiter Sinn geben will, wenn ich einigermaßen gelassen weiterleben will.

Nicht weglassen. Aber loslassen. Sagt Paulus.
Damit wir gelassen durch’s Leben gehen können.


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