Wir sind Engel



(Predigt vom 30.12.2018 zu  Matthäus 2, 13-23)

Ihr Lieben,

vom 1. bis zum 24. Dezember gab es im Internet einen Adventskalender unserer Landeskirche: https://www.kirchenasyl-adventskalender.de

Wenn man die Internetseite besuchte, sah man zunächst vierundzwanzig Schneeflocken. Hinter jeder Schneeflocke verbarg sich die Geschichte von Menschen, die in der Kirche Zuflucht gesucht hatten. Kirchenasyl ist das Stichwort.

Bei Schneeflocke Nummer 8 gab es folgendes zu lesen:

Reza lebte mit seinen Eltern 2017/18 im Kirchenasyl. Die Familie war über Bulgarien eingereist. Mutter und Kind sind in therapeutischer Behandlung. Die Therapeutin des Jungen berichtet.

M, U und T
Als ich Reza kennenlerne, ist er fünf Jahre alt – ein freundlicher, ernster kleiner Junge. Er war mit seiner Mutter auf der Flucht, hat mit ihr schlimme Zeiten in einem gefängnisartigen Camp verbringen müssen und erst nach Monaten den Vater wieder getroffen.

Die Eltern hatten berichtet, ihr Sohn könne nicht einschlafen, schlafe höchstens kurz, die ganze Nacht sei er unruhig, schlage mit seinen Händen gegen die Wand, schreie, verstecke sich unter der Decke; nur in den frühen Morgenstunden nicke er aus Erschöpfung etwas ein.

Er habe große Angst, vor dem Alleinsein und besonders vor der Polizei. Und große Angst, dass ihm die Eltern weggenommen werden könnten, dass sie nicht zurückkommen. Einmal habe er ohne äußeren Anlass seinen Rucksack aufgesetzt und gefragt: „Wann kommen sie und holen uns?“ Er erschrecke schnell, sei meistens sehr unruhig; manchmal hingegen werde er außergewöhnlich ruhig und verkrieche sich vor Angst ins Bett.

Einige Monate nach Beginn der Therapie mit dem Jungen erfahre ich, dass die Familie ins Kirchenasyl aufgenommen wurde. Sie lebt nun für einige Zeit in einer kleinen Wohnung innerhalb eines Kirchengebäudes. Bei meinen Besuchen (die Eltern durften das Areal der Kirche nicht verlassen) begegnet mir nun eine Familie, die entspannter ist, endlich nach langer Zeit etwas Privatsphäre genießt; fast wie in einem normalen Zuhause. Die Mutter kann selber kochen und die Familie versorgen. Reza ist sofort anzumerken, dass er sich etwas geborgener fühlt.

Wir alle spielen Fußball, ich erlebe Reza ausgelassen und fröhlich; er darf toben und Tore schießen. Wir lachen zusammen. Er schläft besser, er ist ruhiger geworden. Reza geht gerne mit, wenn Kirchenmitglieder ihn zu Ausflügen mitnehmen, aber es ist auch schwierig, da die Eltern ihn nicht begleiten dürfen. Er darf weiterhin in die Kita gehen, aber die Eltern dürfen ihn auch dorthin nicht begleiten, das ist nicht leicht für den kleinen Jungen.

Vor einigen Wochen wurde Reza eingeschult. Jetzt ist er sehr stolz, „M“ und „U“ und „T“ schreiben zu können.

Dieses ist zwar auch eine Flüchtlingsgeschichte, genau wie die, die wir vorhin über Josef, Maria und Jesus gehört haben, aber sie ist trotz vieler Ähnlichkeiten ganz anders.

Was beide Geschichten gemeinsam haben, ist, dass da nichts von Weihnachtsromantik ist. 

Maria, Josef und der kleine Jesus sind auf der Flucht. Von Hirten, die vor dem Jesuskind niederknien, von Frieden auf Erden und von jubelnden Engelchören ist nicht mehr die Rede. Es gibt nur noch einen Engel, und zwar den, der warnt, denn plötzlich erwischt uns alle knallhart die Realität. Und die ist nicht romantisch, sondern blutrünstig. Die Bibelgeschichte ist das reinste Gemetzel, wenn ihr mich fragt. Auch wenn es sich hier um eine Legende handelt und es keine historischen Hinweise auf einen Kindermord durch Herodes gibt. Allerdings trifft es schon zu, dass Herodes ein ziemlich grausamer und machtbesessener Herrscher war. Wie auch sein Sohn, der ihm auf den Thron folgte. 

Auch die Familie hinter Schneeflocke Nummer 8 war auf der Flucht. Auch diese Familie musste Angst um Leib und Leben haben. Das ist das, was sie mit der Heiligen Familie aus der Bibel gemeinsam haben. Diese Familie ist allerdings im Gegensatz zur Heiligen Familie nicht von Leid verschont geblieben. Und vor dieser Familie fällt auch garantiert niemand auf die Knie.

Anders als Josef hat der Vater aus der Geschichte von Schneeflocke Nummer 8 seine Familie nicht immer beschützen können. Diese Geschichte von Schneeflocke Nummer 8 hat kein Happy End. Immer noch droht Abschiebung, wenn die Eltern das kirchengemeindliche Gebäude und damit das Kirchenasyl verlassen. 

Es gab auch keinen Engel, der dem Vater im Traum erschien und warnte: Geht nicht nach Deutschland, denn da wollen sie euch nicht haben. Sie werden euch wieder zurückschicken. Geht woanders hin.

Oder vielleicht war da doch ein Engel? Einer, der der Familie gesagt hat: Geht in die Kirche, denn da seid ihr erstmal sicher.

Wenn ich es mir recht überlege, dann waren da sogar ziemlich viele Engel in der Geschichte hinter Schneeflocke Nummer 8.
Da gab es definitiv den Therapeutenengel, der sich um das Kind kümmerte und ihm half, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Es gab die gastfreundlichen Engel, die die Familie in ihrer Mitte und in ihrer Kirche aufgenommen haben. Es gab Begleiter-Engel, die den Jungen auf Ausflüge mitgenommen haben. Es gab die Versorgungs-Engel, die die Familie während der Zeit des Kirchenasyls betreut und mit allem versorgt haben, was sie brauchte. Mit Lebensmitteln zum Beispiel, damit die Mutter kochen konnte, denn sie selbst konnte ja die Wohnung nicht verlassen, ohne Verhaftung und Abschiebung zu riskieren.

Rudolf Otto Wiemer hat geschrieben:

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.

Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und er hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht,
der Engel.

Er steht im Weg und er sagt: Nein,
der Engel.
Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein
es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.

Es müssen auch nicht Wesen sein, die einem im Traum erscheinen. Engel, die warnen, helfen, beistehen, unterstützen, die gibt es überall. Diese Engel sind wir!

Wir können dabei helfen, dass die eine Flüchtlingsgeschichte heute genauso ein Happy End hat, wie die Flüchtlingsgeschichte damals. Und wer weiß denn schon, ob wir mit unserem Engelsein nicht auch dem Sohn Gottes das Leben retten? 

Auch an dieser Stelle möchte ich ein Zitat einfügen, und zwar aus dem Matthäusevangelium. Jesus sagt da:

         Denn ich war hungrig,
und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich war durstig,
und ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich war ein Fremder,
und ihr habt mich als Gast aufgenommen.
         Ich war nackt,
und ihr habt mir Kleider gegeben.
Ich war krank,
und ihr habt euch um mich gekümmert.
Ich war im Gefängnis,
und ihr habt mich besucht.‹
         Dann werden die Menschen fragen,
die nach Gottes Willen gelebt haben:
›Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen
und haben dir zu essen gegeben?
Oder durstig
und haben dir zu trinken gegeben?
         Wann warst du ein Fremder
und wir haben dich als Gast aufgenommen?
Wann warst du nackt
und wir haben dir Kleider gegeben?
         Wann warst du krank oder im Gefängnis
und wir haben dich besucht?‹
         Und der König wird ihnen antworten:
›Amen, das sage ich euch:
Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind –, das habt ihr für mich getan.‹
(Mt. 25, 35-40)

Es müssen nicht Wesen sein, die im Traum erscheinen. Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die den Lebensgeschichten mancher Menschen zu einem Happy End verhelfen. Aber wir können es sein. Es müssen nicht Wesen sein, die im Traum erscheinen. Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die den Christus retten. Aber wir können es sein.

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