Er führet mich


Predigt am 28.02.2019 zu Psalm 23
(Gedenkgottesdienst zur Wiederfreigabe  Helgolands)

Ihr Lieben,

ich erinnere mich an eine kleine Andacht, die wir im letzten Jahr mit dem Kindergarten hier in der Kirche gefeiert haben.

Während der Andacht gab es eine kleine Aktion mit den Kindern: Die Erwachsenen sollten sich mit geschlossenen Augen von den Kindern durch die Kirche zum Taufbecken führen lassen. Ich stand also ganz hinten in der Kirche, den langen Mittelgang vor mir und machte die Augen zu. Dann spürte ich, wie sich eine kleine Kinderhand in meine schob und ich an dieser Hand ein wenig nach vorne gezogen wurde. Eine zweite kleine Hand versuchte, mich an meinem Bein in die richtige Richtung zu schieben. Ich muss gestehen, dass mir der Mittelgang unserer Kirche noch nie so lang vorkam. Ich hatte wirklich ein bisschen Angst, dass ich jeden Moment ordentlich gegen eine Kirchenbank rempeln würde und ich muss gestehen, dass die Versuchung groß war, zwischendurch zu blinzeln. Aber das war ja nicht Sinn der Sache. Sinn der Sache war, das Vertrauen aufzubringen, dass dieser kleine Mensch mich genau da hinbringen würde, wo ich hin sollte: zum Taufkessel. Wir kamen tatsächlich heil am Ziel an und die Kinderstimme, die zu dem kleinen Menschen gehörte, dessen Hand ich hielt, sagte zu mir: Jetzt kannst du die Augen aufmachen.

Als ich die Augen öffnete, hatte ich ein Glas mit Wasser vor der Nase, das ich trinken durfte. Ich habe selten Wasser getrunken, das so gut geschmeckt hat.

Diese kleine Übung haben wir zum 23. Psalm gemacht, in dem es heißt: Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Für mich ist diese Erfahrung ein wunderbares Beispiel dafür, wie es manchmal mit meinem Vertrauen zu Gott aussieht. Immer wieder gerate ich in Situationen, in denen ich Gott blind vertrauen muss. Und in denen ich Gott kaum etwas zutraue, weil ich Angst habe, dass er gar nicht so stark und mächtig ist, sondern klein und schwach wie Kind. Gottes Hand, die meine Hand ergreift, fühlt sich dann nicht groß und stark an, sondern ganz klein und zart – eben wie die Hand eines Kindes. 

Und wie bei einem Kind habe ich bei Gott manchmal Zweifel, ob er weiß, was er tun muss, damit ich in die richtige Richtung laufe. Kann er mich davor schützen, über Hindernisse zu stolpern, mir selber oder anderen wehzutun oder sogar ernsthaft verletzt zu werden? Ich selber kann nicht sehen, wohin mein Weg mich führen wird und wie dieser Weg beschaffen ist.

Deshalb muss ich mich Gottes Führung anvertrauen. Ich DARF ich mich seiner Führung anvertrauen, was gut ist, denn er bringt bringt mich zum frischen Wasser, so wie ein Hirte oder eine Hirtin die Schafe zum frischen Wasser führt. Das frische Waser steht für das Leben. Ohne Wasser kein Leben. Ohne Gottes Kraft auch kein Leben.

Auch die Menschen, die hier auf Helgoland lebten, liebten, arbeiteten, lachten, weinten, Familien gründeten, feierten, trauerten, ..., und die dann durch den Krieg und die Evakuierung ihre Heimat verloren haben, mussten sich Gottes Führung anvertrauen.

Nicht umsonst haben sie einen ganz bestimmten Vers aus dem 23. Psalm gewählt, um sich unter diesem Bibelwort in der Fremde zum Gottesdienst zu versammeln: „Er führet mich.“ Dieser Vers steht auch auf unserer Helgolandglocke, die wir um Mitternacht noch läuten hören werden.

In diesem Vers schwingen ganz viele Gedanken mit:
Er führet mich aus dem Krieg.
Er führet mich aus der Zerstörung.
Er führet mich aus dem Hunger und dem Durst.
Er führet mich aus der Obdachlosigkeit.
Er führet mich aus der Einsamkeit.
Er führet mich aus der Gefangenschaft.
Er führet mich aus der Krankheit und dem Tod.
Er führet mich aus der Ablehnung.
Er führet mich aus der Trauer.
Er führet mich aus der Angst.
Er führet mich aus der Verzweiflung.
Er führet mich aus der Fremde.

Und später dann:
Er führet mich zu meiner Familie und zu den Menschen, die mir nahe sind.
Er führet mich zurück zur Würde.
Er führet mich in die Freiheit.
Er führet mich in den Frieden.
Er führet mich in die Gesundheit.
Er führet mich zur Freude.
Er führet mich in die Zuversicht.
Er führet mich zur Zufriedenheit.
Er führet mich in den Wohlstand.
Er führet mich in den Wiederaufbau.
Er führet mich wieder nach Hause.
Er führet mich in ein neues Leben.


ER führt uns aber nicht nur zum frischen Wasser, nicht nur dahin, wo ein Neuanfang möglich ist, wo Leben wieder möglich ist, wo es wieder eine Zukunft gibt. 

ER, der gute Hirte, führt uns auch auf rechter Straße, sagt der Psalm.

Er führet uns auf rechter Straße, damit wir mit anderen Menschen nicht so umgehen, wie viele Evakuierte damals behandelt worden sind: abgelehnt und ausgeschlossen. 

Er führet uns auf rechter Straße, damit wir aus den Fehlern der Vergangenheit und aus den Fehlern anderer Menschen lernen und es besser machen können. Er führet uns auf rechter Straße, damit wir lernen, in Frieden zu leben, anstatt Kriege anzuzetteln. Er führet uns auf rechter Straße, damit wir lernen, offen zu sein, auch für das, was uns fremd ist, anstatt zu verurteilen, abzulehnen und auszugrenzen.

Er führet uns auf rechter Straße, damit wir aufnehmen und annehmen: all die Menschen, die sich uns anvertrauen, die uns ihre Hände entgegenstrecken, aus welchem Grund auch immer. 

Er führet uns auf rechter Straße, weil es Menschen gibt, die darauf vertrauen, dass wir Gottes Hände in der Welt sind. Er führet uns auf rechter Straße, weil es Menschen gibt, die wir dahin führen sollen, wo Leben ist. So wie die Kindergartenkinder die Erwachsenen durch die Kirche zum Taufkessel geführt haben.

Wir sind Gottes Hände in dieser Welt, die andere Menschen in die richtige Richtung schieben und ziehen. Deshalb ist es so wichtig, aus der Vergangenheit zu lernen. Deshalb ist es aber genauso wichtig weiterzugehen, nicht stehen zu bleiben und nach vorne zu sehen. Der Blick zurück ist wichtig, weil wir aus der Vergangenheit lernen. Der Blick um uns herum im Hier und Jetzt ist wichtig, um das Gelernte anwenden zu können. Und der Blick muss auch nach vorne gerichtet zu sein, damit wir wissen, in welche Richtung wir gehen müssen.

Diejenigen, die Krieg, Zerstörung, Vertreibung und Ablehnung erfahren haben, sind jetzt diejenigen, die andere an die Hand nehmen können, um ihnen den Weg zu weisen in Richtung Frieden, Aufbau, Offenheit und Annahme. 

Und nicht nur diejenigen, die dies alles selbst erlebt haben. Auch wir sind Gottes Hände in der Welt. Auch wir sind diejenigen, die andere an die Hand nehmen und zu einem neuen und zu einem guten Leben führen können. Oder schieben.

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