So müde!


Predigt am 19.04.2020 zu Jesaja 40, 26-31


Ihr Lieben,
einige von uns sind inzwischen ziemlich müde: 
Müde vom eingesperrt sein, müde von den Kontaktbeschränkungen, müde von der Ungewissheit, müde von unerfüllter Hoffnung, müde von den Ansteckungszahlen, müde von den schlechten Nachrichten aus der ganzen Welt, müde vom digitalen Leben.

Viele von uns sehnen sich danach, dass all diese Dinge, die uns so ermüden, endlich aufhören. Selbst mir geht es so:

Ich sehne mich nach Kontakt zu den Menschen. Ich sehne mich nach Dienstabenden bei der Feuerwehr. Ich sehne mich danach, meine Mutter in den Arm nehmen zu können. Ich sehne mich danach, wieder schwimmen gehen zu können, oder ins Kino. Ich sehne mich nach Doppelkopfabenden mit Freunden. Ich sehne mich nach Gottesdiensten mit vielen Menschen in der Kirche.

Wer müde ist, sollte sich ausruhen. Das ist doch das normalste von der Welt. Wenn ich auf einer Bergtour bin und müde werde, dann setze ich mich auf einen Felsen, packe Wasserflasche und Müsliriegel aus und mache Pause. Das Ausruhen, der Müsliriegel und das Wasser geben mir die Kraft, die ich brauche, um dann nach einer Weile weiter zu gehen. Wenn ich den Berggipfel erreicht habe, mache ich wieder Pause, mit einer deftigen Brotzeit. Ich esse, ich trinke, ich genieße die überwältigende Aussicht und nach einer Weile bin ich wieder fit für den Abstieg.

Wenn uns die Arbeit des Tages müde macht, dann gehen wir abends ins Bett und schlafen. Und ruhen uns aus. Wir machen eine ganze Nacht lang Pause. Das gibt uns die Energie, unsere Arbeit am nächsten Tag wieder aufzunehmen. Und diejenigen, die an Schlafstörungen leiden, wissen, wie belastend es ist, wenn man nachts nicht ausruhen kann. Das kann richtig zermürbend sein und das Gegenteil von dem bewirken, was eigentlich nachts für uns vorgesehen ist.

Und da bin ich dann bei der Frage: Was tun, wenn die Pause das ist, was uns so ermüdet? Ich finde, das Leben fühlt sich im Moment schon so an, als hätte jemand gerade die Pausentaste gedrückt. Für viele geht es in diesen Wochen ja auch tatsächlich ruhiger zu. Wir sind in vielen Bereichen total entschleunigt. Zwangsweise. Aber das gibt uns nicht die Energie zurück. Das lädt unsere Batterien nicht wieder auf. Im Gegenteil: Es stresst unglaublich, weil der Alltag uns überfordert, weil die Existenz bedroht ist, weil die ständige Konfrontation mit Krankheit und Tod uns auszehrt.

Da können ganz schnell mutlose Gedanken aufkommen, wie die, die im Jesajabuch beschrieben werden. Die Israeliten, an die sich dieser Text richtet, sind genauso gefangen, wie wir gerade. Sie sind genauso müde wie wir gerade. Sie sind zwar nicht zuhause gefangen, sondern in einem fremden Land im Exil, aber ihnen sind, genauso wie uns, ganz viele Freiheiten genommen. Sie laufen Gefahr, ihre Identität in der Fremde zu verlieren. 
Damals war die Oberschicht der Reiches Israel ist nach Babylonien deportiert worden und die Israeliten sollten dort nun langsam von den Babyloniern assimiliert werden. Das klingt jetzt ein bisschen nach Star Trek, aber es trifft die Maßnahmen ziemlich genau. Assimilieren bedeutet: durch Umwandlung angleichen. Die Israeliten durften ihre religiösen und kulturellen Bräuche nicht mehr ausüben und mussten sich dem Leben, der Religion und der Kultur der Babylonier angleichen. Sie waren gefangen und unfrei, wie wir gerade. 
Die Unterschicht, die im Land bleiben durfte, war zwar in vertrauter Umgebung, aber die deportierte Oberschicht wurde durch eine babylonische Oberschicht ersetzt. Mit demselben Ziel: Assimilation. Die zu Hause gebliebenen waren also genauso gefangen und genauso unfrei. Nur eben im eigenen Land.
So schaffte man es damals ein ganzes Volk, eine ganze Kultur einfach auszulöschen. 
In solch einer Situation kostet es unglaublich viel Kraft, an seiner Religion, an seiner Kultur, an der eigenen Identität festzuhalten. Es ist ein Kampf und dieser ewige Kampf macht irgendwann müde. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie von Gott nicht mehr gesehen werden, dass ihre Nöte von Gott nicht mehr gesehen werden.

Und da kommt der Prophet Jesaja (eigentlich ist es nicht der Original-Jesaja, sondern jemand, der seine Arbeit später fortgeführt hat) und sagt dem Volk Israel: Ihr seid müde, aber Gott ist nicht müde. Gott hat so unglaublich viel Kraft, dass er (oder sie) euch davon etwas abgeben kann. Und es auch tut: „Die ewige Gottheit (...) gibt den Müden Kraft und den Ohnmächtigen vermehrt sie die Stärke.“ So formuliert es die Bibel in gerechter Sprache.

Ich finde, dass ich schon ziemlich gelassen mit der momentanen Situation umgehe, aber selbst mir geht das Coronakrisenleben inzwischen an die Substanz. Selbst ich habe Phasen, in denen ich denke: Wie lange muss ich das noch aushalten? Wie lange kann ich das noch aushalten? Und was passiert, wenn ich es nicht mehr kann?

Die Antwort darauf habe ich gerade durch den Propheten Jesaja bekommen: Wenn ich müde bin, gibt die ewige Gottheit mir Kraft. Wenn mich die das Gefühl der Ohnmacht überwältig, dann vermehrt sie meine Stärke.

Darauf kann ich vertrauen. Darauf muss ich vertrauen, wenn ich die Wochen des Coronakrisenlebens überstehen will. Darauf darf ich vertrauen, denn Gott hat ihre Kinder noch nie im Stich gelassen. Ja, ich gebe zu, dass Gott manchmal auf eine Weise wirkt, die ich nicht nachvollziehen kann. Es gibt Situationen, in denen ich anders gehandelt hätte als Gott. Aber die ewige Gottheit wird schon wissen, was sie tut und warum sie es tut. Und wie gesagt: Sie hat ihre Kinder noch nie im Stich gelassen.

Einen Beweis dafür finden wir in der Bibel und in der Geschichte Israels: Das Volk Israel durfte nämlich aus dem Exil, aus der Gefangenschaft, nach Hause zurückkehren und dort alles, was durch die Babylonier zerstört worden war, wieder aufbauen. Sie durften ihr Leben wieder aufbauen.

Die ewige Gottheit hat ihre Kinder noch nie im Stich gelassen. Deshalb wird sie uns auch jetzt nicht im Stich lassen, sondern uns die Kraft geben, die wir zum Durchalten brauchen. Und auch wir werden dem, was uns im Moment gefangen hält, irgendwann entfliehen. Auch wir werden unser Leben wieder aufbauen dürfen.

Die ewige Gottheit hat ihre Kinder noch nie im Stich gelassen und unsere Wege sind auch nicht vor Gott verborgen, wie die Israeliten damals befürchtet hatten. Gott sieht uns. Jede und jeden einzelnen von uns. Gott sieht uns in unserer ganzen Müdigkeit. Jetzt liegt es an uns, auch Gott zu sehen - mit ihrer ganzen Kraft, von der sie uns etwas abgeben wird, wenn wir es brauchen. Mir hilft es, wenn ich mir nicht ständig anschaue, was mich da im Moment alles gefangen hält, sondern stattdessen dahin blicken, wo die Kraft herkommt. Mir hilft es, wenn ich sozusagen nach dem „göttlichen Müsliriegel“ Ausschau halte, der meiner Seele wieder Kraft gibt. Und davon gibt es jeden Tag mindestens einen: 
-       der Mensch am anderen Ende der Telefonleitung, der mir sagt, dass er oder sie mich liebhat, 
-       der Spaziergang auf dem Klippenrandweg, der mir mal wieder die Schönheit von Gottes Schöpfung vor Augen führt,
-       das Geschenk, das plötzlich und ganz unerwartet mit der Post kommt,
-       die tröstenden Worte, die ich in einer Instagram Story finde,
-       oder die Worte des Propheten Jesaja.

Mit den Worten des Jesaja nehme ich jedenfalls ganz viel Zuversicht mit in die neue Woche. Und ich wünsche euch dasselbe: Dass sie euch die Kraft geben, die ihr gerade braucht, um in eurer Müdigkeit weiter durchzuhalten.

Und wenn ihr gerade gar nicht so müde seid, dann könnt ihr selbst zu einem „göttliche Müsliriegel“ werden und anderen Kraft geben.





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