Mit der christlichen Brille sehen



(Predigt vom 19.08.2018 zu Apostelgeschichte 3, 1-10)

 

 Ihr Lieben,

 

ich habe hier für euch eine kleine Geschichte von Pastor Otto Weymann:

 

Dankbares Verneigen 

Wieder sitzt er vor der Einkaufspassage. Seinen Plastikbecher streckt er allen Vorbeigehenden entgegen. Auf einem verschmierten Pappschild steht: „Ich habe Hunger“. Eine Frau scheint stehen zu bleiben, geht dann aber schnell weiter. Nach ein paar Minuten kommt sie wieder mit einer Tüte voller Brötchen und will sie ihm geben. Er aber wehrt die Tüte heftig mit einem Handschlag ab und hält der Frau auffordernd den Plastikbecher unter die Nase. Die Brötchen rollen durch die Passage, dazwischen flattert ein 10-Euroschein, den die Frau in die Tüte gesteckt hatte. Jetzt treffen sich die Blicke der Frau und des Bettlers. Beide für einen Moment regungslos. In ihren Blicken treffen sich Ärger und Scham, Spott und Hilfe, Undankbarkeit und Güte, Almosen und Aufrichtigkeit. 

Der Bettler nickt staunend und dankbar und hebt den 10-Euroschein auf. Die Frau sammelt die Brötchen auf, steckt sie ein und geht. 

Zwei Tage später sitzt er wieder da. Mit Plastikbecher und Schild. Die Frau kommt wieder vorbei und will, ohne anzuhalten, an ihm vorbeigehen. Da zieht der Mann den Plastikbecher zurück, legt seine Hände aneinander und verneigt sich vor der Frau. Sie bleibt fast stehen. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke wieder, und seine Dankbarkeit entlockt ihrem Gesicht ein Lächeln … 

Sie geben von dem, was sie haben. – Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. 

 

Das ist ja ordentlich schiefgegangen mit der Hilfe und so etwas passiert, wenn wir einem anderen Menschen unsere Version von Liebe aufzwingen wollen. Eine Betonung liegt hier auf „unsere Version von Liebe“ (im Gegensatz zu der Liebe Jesu Christi). Eine weitere Betonung liegt auf „aufzwingen“. Es gibt also zwei Aspekte, wenn es ums Helfenwollen geht.

 

1. Fangen wir mal mit dem ersten Aspekt an: mit der Art der Liebe, die wir praktizieren. Da gibt es zwei verschiedene Brillen, die wir aufsetzen können. Die eine Brille ist die, die uns nur unsere Sicht der Dinge zeigt und uns entsprechend handeln lässt. Die andere ist die christlich Brille, die uns ggf. ganz anders handeln lassen würde.

 

Die Frau aus der Geschichte hatte ihre eigene Brille auf und hat dadurch diverse Möglichkeiten nicht gesehen:

Vielleicht hatte der Bettler gerade schon Brötchen gegessen. Vielleicht braucht er das Geld, um sich einen Schlafsack leisten zu können. Vielleicht hat er ein Vorstellungsgespräch in Aussicht und braucht dazu neue Kleidung. Dabei helfen Brötchen nicht, aber das Geld schon. Vielleicht hat er aber auch so etwas ganz Banales wie eine Intoleranz gegen Weizenmehl. (Die gibt es tatsächlich, wie ich vor kurzem von Freunden erfahren habe. Sie verursacht bei Genuss von Weizenmehl heftige Bauchschmerzen und Durchfall.)

 

Unsere Sicht der Dinge steht uns also oft im Weg, weil wir schlichtweg nicht alles sehen, weil nicht alles durschauen.

 

Dazu möchte ich euch gerne noch ein weiteres Beispiel geben, weil es so schön aus dem Leben gegriffen und mir tatsächlich passiert ist. Das hat zwar erstmal nichts damit zu tun, einem anderen Menschen zu helfen oder etwas Gutes zu tun, aber es hat sehr wohl etwas mit MEINER Perspektive zu tun, die sich unter Umständen drastisch von der Perspektive eines Jesus Christus unterscheidet. 

 

Ich bin diesen Sommer viel schwimmen gewesen. Eines schönen Montagmorgens war ich um 8.00 Uhr im Schwimmbad und zog meine Bahnen. Und wurde von anderen Schwimmern zwei- oder dreimal aus der Bahn gedrängt. Das hat mich geärgert. Sehr sogar! Irgendwann war die Bahn ganz am Rand frei und ich verzog mich dahin, in der Hoffnung nun in Ruhe weiterschwimmen zu können. Konnte ich nicht, denn ich kollidierte mit einem älteren Herrn, der in meiner Bahn schwamm! So langsam wurde ich richtig sauer, denn er machte keine Anstalten, auszuweichen. Mir ging noch durch den Kopf, dass er vielleicht kein guter Schwimmer sei und die Sicherheit des Beckenrandes brauchte. Dann fiel mir ein, dass das Becken ja nicht tief ist und man überall stehen kann. Da war ich dann wieder sauer und versuchte nun erst recht, in meiner Bahn zu bleiben. 

 

Letztlich wollte ich dann aber auch keinen Streit, wich wieder aus und rückte eine Bahn weiter. Ich weiß noch genau, dass ich diesem älteren Herrn Sturheit unterstellt habe so nach dem Motto: Das ist meine Bahn und ich schwimme hier schon seit 50 Jahren! Ich habe Tage später noch blöde Kommentare von mir gegeben, weil ich so verärgert war.

 

Seit letzter Woche ist mir mein Verhalten abgrundtief peinlich, denn seit letzter Woche weiß ich, dass dieser Mann blind ist! 

 Ich hatte offensichtlich die falsche (Schwimm-)Brille auf. Ich hatte MEINE Brille auf. Ich hätte aber die CHRISTLICHE Brille aufhaben müssen. 


Petrus in unserem Predigttext hat die christliche Brille auf. Er sagt nämlich zu dem Bettler: „Gold und Silber habe ich nicht. Aber was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen von Jesus Christus!

 Petrus gibt dem Bettler zwar nicht, was der haben will, aber er kann ihm geben, was er braucht, weil Petrus ihn durch die christliche Brille betrachtet – und nicht durch seine eigene.

 

Ich hätte dem Schwimmer auch geben können, was er brauchte (nämlich die Bahn ganz am Rand), wenn ich ihn durch die christliche Brille betrachtet hätte und nicht durch meine eigene. Dann hätte ich nämlich nicht nur die gelbe Badekappe gesehen sondern auch die die drei schwarzen Punkte darauf. 

 

Wenn wir unsere eigene Brille aufhaben, dann erwarten wir schnell, dass die Menschen dankbar sind für das, was wir ihnen anbieten, weil wir es ihnen anbieten. Und wir ärgern uns, wenn die Dankbarkeit oder eine andere erwarte Reaktion ausbleibt. Wenn Christus aber dazwischen steht, wenn wir die christliche Brille aufsetzen, dann passiert das nicht. 

 

2. Kommen wir jetzt zum zweiten Aspekt des Helfenwollens: Wenn wir unsere eigene Brille aufhaben, dann passiert es fast automatisch, dass wir versuchen, unserem Gegenüber unsere Version von Liebe, Hilfe, Verständnis, Güte, usw. aufzuzwingen. Tragen wir aber die christliche Brille, dann sind wir in der Lage, unserem Gegenüber seine oder ihre Freiheit zu lassen.

 

Dietrich Bonhoeffer hat das so formuliert:

Weil Christus zwischen mir und dem andern steht, darum darf ich nicht nach unmittelbarer Gemeinschaft mit ihm verlangen. Wie nur Christus so zu mir sprechen konnte, daß mir geholfen war, so kann auch dem andern nur von Christus selbst geholfen werden. Das bedeutet aber, daß ich den andern freigeben muß von allen Versuchen, ihn mit meiner Liebe zu bestimmen, zu zwingen, zu beherrschen. In seiner Freiheit von mir will der andere geliebt sein als der, der er ist, nämlich als der, für den Christus Mensch wurde, starb und auferstand ...

 

Nicht nur offen zu sein für alle möglichen Hintergründe, ist christlich, sondern auch, einem anderen Menschen seine oder ihre Freiheit zu lassen. Wer bin ich, dass ich zu bestimmen habe, wofür ein Bettler betteln darf? Klar kann ich wie Petrus versuchen, einem Menschen so zu helfen, dass er oder sie sich am Ende selber helfen kann. Petrus hat den gelähmten Mann geheilt, sodass der nun wieder in der Lage ist, selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch in unserer Zeit gibt es viele gute Projekte, die genau das sind: Hilfe zur Selbsthilfe und Hilfe, um aus der Opferrolle rauszukommen.

 

ABER: Es steht mir nicht zu, jemanden zu etwas zu zwingen, was ich selber für sinnvoll halte. Und: Es steht mir nicht zu zu richten. Wenn jemand lieber das erbettelte Geld nimmt und sich davon in einen Alkohol-und Drogenrausch katapultiert anstatt davon eine warme Mahlzeit zu erstehen, dann ist das zwar sehr schade, trotzdem habe ich nicht das Recht dem Bettler oder der Bettlerin meine Version von Nächstenliebe aufzuzwingen. Was nicht heißt, dass ich einem Bettler Geld geben MUSS. Ich kann aber, bevor ich Brötchen kaufe, fragen, ob das überhaupt gewollt und sinnvoll ist.

 

Fazit: Setze ich die christliche Brille auf, dann stehen die Chancen gut, dass ich wichtige Dinge erkenne, für die ich sonst blind gewesen wäre. Setze ich die christliche Brille auf, dann stehen die Chancen gut, dass mich das davon abhält, jemandem die Freiheit zu nehmen oder jemanden zu verurteilen.

 

Ich würde das übrigens nicht nur auf das Thema Heilung beschränken wie im Bibeltext, sondern ich würde das Tragen einer christlichen Brille auf unser ganzes Leben ausdehnen wollen. Lasst uns einfach mal das Wort „heilen“ durch „handeln“ ersetzen. Wenn wir nur in unserem eigenen Namen handeln, dann geht das schief, wie wir an der Schwimmbadepisode sehen. Wenn wir aber im Namen Jesu Christi handeln, dann kann viel Gutes geschehen in dieser Welt.


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Verwendetes Material:

Werkstatt für Liturgie und Predigt, Heft Juli + August

- S. 233, Aus der Glaubensgeschichte: Dietrich Bonhoeffer – Christus selbst;

- S. 234, Glaube im Alltag (2): Otto Weymann - Dankbares Verneigen 


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