Auf (dem Weg zu) dem Gipfel


(Predigt am Totensonntag zu Philipper 1, 21-26)


Ihr Lieben,

ich habe heute eine Szene aus dem Buch „Das blaue Zimmer“ von Rosamunde Pilcher für euch, in der der achtjährige Toby ein Gespräch mit seiner Großmutter über das Thema Leben und Tod führt.

Toby hat gerade seinen besten Freund verloren: Mr. Sawcombe, der mit 62 Jahren an einem Herzanfall starb. Toby ist sehr traurig und versucht, mit dem Verlust fertig zu werden.

Wir steigen hier in das Gespräch zwischen Toby und seiner Großmutter ein:

«Warst du verliebt, als du Großpapa geheiratet hast?»
«Ich glaube schon. Es ist so lange her, dass ich es manchmal
vergesse.»
«Hast du ...» Er zögerte, aber er musste es wissen, und Gran-
ny hatte sich noch nie durch eine peinliche Frage in Verlegenheit bringen lassen. «Als er starb ... hast du ihn da sehr vermisst?»

«Warum fragst du? Vermisst du Mr. Sawcombe?»
«Ja. Den ganzen Tag. Den ganzen Tag hab ich ihn vermisst.» 
«Das gibt sich. Später ist das mit dem Vermissen nicht mehr
so schlimm, und dann erinnerst du dich nur an die schönen Zeiten.»
«Ist es dir mit Großpapa so gegangen?»
«Ich glaube schon. Ja.»
«Hat man große Angst, wenn man stirbt?»
«Das weiß ich nicht.» Sie lächelte ihr vertrautes Lächeln,
belustigt und spitzbübisch, das so erstaunlich in diesem alten, runzligen Gesicht war. 
«Ich bin noch nie gestorben.»
«Aber ...» Er sah ihr fest in die Augen. Kein Mensch konnte ewig leben. 
«Aber hast du denn keine Angst?»
Die Großmutter nahm Tobys Hand. «Weißt du», sagte sie, «ich habe mir immer vorgestellt, dass das Leben eines jeden Menschen wie ein Berg ist. Und jeder muss allein auf diesen Berg steigen. Du beginnst im Tal, es ist warm und sonnig, ringsum sind Weiden und Bächlein, Butterblumen und sonst noch allerlei. Das ist deine Kindheit. Und dann fängst du an zu steigen. Allmählich wird der Berg etwas steiler, es geht sich nicht mehr so leicht, aber wenn du hin und wieder stehen bleibst und dich umschaust, ist die wunderbare Aussicht jede Anstrengung wert. Und ganz oben auf dem Berg, wo Schnee und Eis in der Sonne glitzern und alles unglaublich schön ist, das ist der Gipfel, die große Leistung, das Ende des langen Aufstiegs.»
(Rosamunde Pilcher, Das blaue Zimmer, S. 27f, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 16. Aufl. 2010 )

Wenn es da oben auf dem Gipfel wirklich so schön ist, dann ist es auch kein Wunder, dass es Menschen gibt, die da unbedingt hin möchten. 

Wer schon einmal einen Berg bestiegen hat, weiß dass die Wanderung an sich schon sehr schön ist: Die Bewegung an der frischen Luft, die atemberaubende Aussicht, die Gemeinschaft, wenn man mit anderen unterwegs ist. Manchmal kann es sogar passieren, dass man bei einem solchen Aufstieg gebraucht wird: Wenn andere Wanderer in Schwierigkeiten sind zum Beispiel. Mir ist es mal passiert, dass ich drei jungen Leuten helfen mussten, die es nicht schafften, ein Schneefeld zu überqueren, weil sie völlig falsch ausgerüstet waren. In Turnschuhen kommt man einfach schlecht durch den Schnee, ohne wegzurutschen. Ich konnte diesen jungen Leuten helfen, indem ich sie am Seil sicherte und ihnen meine Wanderstöcke lieh.

Man weiß also nie, wozu es gerade gut ist, dass wir da sind, wo wir gerade sind.

So eine Bergtour ist aber auch tierisch anstrengend, und gespickt mit Herausforderungen. So manches Mal war ich schon kurz davor, wieder umzudrehen. Meistens habe dann aber doch durchgehalten. Zum Glück, denn es ist wirklich unbeschreiblich schön, wenn man oben ankommt und das Gipfelkreuz erreicht. Ich habe auf meinen Bergtouren schon so manche atemberaubende Aussicht erleben dürfen, die mir sogar die Tränen in die Augen getrieben hat. Aber wie gesagt: Auch schon der Aufstieg ist schön.

Ich weiß nicht, was am Ende schöner ist: Die Bergtour an sich oder wenn man endlich auf dem Gipfel ist, eine Pause einlegen, die Aussicht genießen und Brotzeit machen kann.

So geht es auch Paulus. Paulus kann sich auch nicht entscheiden, ob er lieber unterwegs ist oder ob er schon am Ziel angekommen sein möchte. Paulus philosophiert darüber rum, ob er lieber tot oder am Leben wäre. Deshalb versucht er, abzuwägen. 

Es gibt so einiges, das für das Leben spricht, zum Beispiel die Tatsache, dass es für Paulus im Leben noch viel zu tun gibt. Er trägt Verantwortung für seine Gemeinden und möchte sie nicht alleine lassen.

Aber es gibt auch Argumente für den Tod, denn nach dem Tod folgt die Auferstehung und ein ewiges Leben in Gottes himmlischem Reich in der Gegenwart von Jesus Christus. Bei Christus zu sein, dass ist für Paulus der Gipfel, den er unbedingt erreichen möchte. Das ewige Leben findet für Paulus da statt, „wo Schnee und Eis in der Sonne glitzern und alles unglaublich schön ist“.

Ich finde, diese Briefzeilen, die Paulus da an seine Gemeinde schreibt, unglaublich tröstlich! Einerseits nehmen sie uns die Angst vor dem Tod, indem sie klarstellen, dass der Tod nichts Düsteres und Bedrückendes sein muss, sondern im Gegenteil etwas, auf das wir uns freuen können, weil er die Schwelle zum ewigen Leben ist.

Andererseits nimmt diese positive Sicht unseres Lebensziels dem Leben an sich aber auch nichts weg. Unser irdisches Leben wird nicht kleingeredet; es verliert damit nicht an Bedeutung. Es wird nicht degradiert zu einem Durchgangslager, durch das wir einfach durch müssen auf dem Weg zu unserem großen Ziel. Das Leben an sich wird durchaus gewürdigt, denn es gibt darin so viele gute Dinge, die wir tun und erleben können. Und es gibt natürlich auch so einiges, das uns herausfordert. Auch das darf nicht kleingeredet werden. 

Eine der Herausforderungen unseres Lebens ist der Abschied. Immer wieder müssen wir Abschied nehmen von Menschen, die uns nahestehen, die uns lieb geworden sind und die sterben. Da ist es dann schön, dass wir nicht alleine vor diesen Herausforderungen stehen, sondern uns gegenseitig unterstützen können. Wir können uns gegenseitig helfen, die Herausforderungen zu meistern. Jede/r mag zwar ihren / seinen eigenen Gipfel zu erklimmen haben, wie die Großmutter in der Geschichte von Rosamunde Pilcher es beschreibt, aber es sind trotzdem andere Menschen gemeinsam mit uns unterwegs, die uns etwas von ihrer Brotzeit abgeben, wenn wir Stärkung brauchen oder die uns am Seil sichern, damit wir nicht abstürzen.

Ich bin also auf einer wunderschönen und auch anstrengenden Bergtour unterwegs, die ihre eigenen Herausforderungen für mich bereithält. Immer wieder passiert es, dass mich Weggefährten verlassen. Aber dafür sind andere Weggefährten an meiner Seite, die mir durch die Trauer und den Schmerz durchhelfen. Und dann ist da ja auch noch das Bewusstsein, dass diese lieben Menschen, die gestorben sind, ihren Gipfel schon erreicht haben, dass sie schon an einem ganz wunderbaren Ort ausruhen dürfen, genauso wie ich irgendwann an diesem wunderbaren Ort ausruhen darf, wenn ich hier meine Aufgabe erfüllt habe.

Das hilft mir, meine Wanderung, also mein Leben, hier und jetzt zu genießen und mich gleichzeitig auf das zu freuen, was das Erreichen des Gipfels, des großes Ziels, bereithält.

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