Ich begleite dich - du begleitest mich


(Predigt zu Hiob 14, 1-6)


Ihr Lieben,

ich selber habe nie etwas so Furchtbares erlebt, dass ich die Lust am Leben verloren hätte. Ich habe nie etwas so Furchtbares erlebt, dass ich zu Gott gesagt hätte: Lass mich doch einfach in Ruhe.

Ich hatte zwei Phasen in meinem Leben, in denen es mir schlecht ging: Die erste Phase musste ich durchstehen, nachdem meine erste große Liebe sich von mir getrennt hatte. Das war eine schlimme Zeit, aber ich habe sie überwunden. Auch mittendrin, als ich dachte, dieses Leid in meinem Herzen ist einfach zu viel, konnte ich es noch aushalten. Ich habe auch nicht zu Gott gesagt: Lass mich doch einfach in Ruhe mit deinen Prüfungen. 

Die zweite Phase waren die Jahre der Arbeitslosigkeit. Da hatte ich, glaube ich, schon eine Depression, aber auch da ging es mir zwar schlecht, aber nicht so richtig schlecht, dass ich alle Hoffnung aufgegeben hätte, wie Hiob es hier tut. Ich hatte in dieser Zeit war das Gefühl, dass die Verbindung zwischen mir und Gott nicht mehr ganz intakt ist, aber ich hatte nie das Bedürfnis, Gott zu sagen: Lass mich doch einfach in Ruhe. Es ging mir also nie so richtig schlecht. Es ging mir nie „hiob-schlecht“.

Deshalb fällt es mir vermutlich auch so schwer, mich in Hiob hineinzuversetzen und ich möchte aus diesem Grund Jorgos Canacakis zu Wort kommen lassen, der ein ganz wunderbares Buch geschrieben hat. In „Ich begleite dich durch deine Trauer“ beschreibt er u.a. sein eigenes Leid:

„Du wirst verstehen, dass es viel zu trauern gibt, wenn man in eine Zeit und in ein Land hineingeboren wird, in dem nicht nur der zweite Weltkrieg, sondern auch ein erbarmungsloser Bürgerkrieg brutal getobt hatten. Das war nicht nur Trauer über Verluste von geliebten Menschen, Heimat, Haus, Idealen und Werten, sondern auch über eine verlorene Kindheit, die auf den Trümmern des Krieges kein geeignetes Milieu für eine normale Entwicklung finden konnte. Und nirgendwo, zu keiner Zeit, gab es einen Raum oder Rahmen, wo diese Gefühle einen Platz gefunden hätten. Da mein Vater der ‚falschen‘ Partei angehörte, wurden wir schließlich auch politisch verfolgt, und es wurde letztendlich unumgänglich, Griechenland zu verlassen, um sich ein neues Zuhause in Deutschland zu schaffen. Ich habe es als unendlich schrecklich empfunden, meine geliebte Heimat verlassen zu müssen. Eine tiefe, unfassbare Trauer überkam mich damals. Mein Herz blutete, und ich fühlte mich, als ob mein Körper von innen zerrissen würde. Und auch zu diesem Zeitpunkt gab es niemanden, vor den ich mich hätte stellen, dem ich meinen großen Schmerz hätte mitteilen können, auch weil ich annahm, es würde sowieso keiner das nötige Verständnis für mich aufbringen.“ (Jorgos Canacakis, „Ich begleite dich durch deine Trauer“, S. 13, Kreuz Verlag GmbH & Co. KG 1990)

Jorgos Canacakis ging es damals so richtig schlecht – „hiob-schlecht“. Er wäre einer derjenigen, die meiner Meinung nach alles Recht der Welt hätten, zu Gott zu sagen: „Lass mich doch einfach nur in Ruhe!“

Gott lässt uns aber nicht in Ruhe. Gott geht uns in unserem Leid und in unserem Elend auch noch auf die Nerven, indem er uns immer wieder sagt: Ich bin bei dir. Ich gehe nicht weg. Ich begleite dich auch durch deinen Schmerz. Und Gott stellt uns Menschen an die Seite, die unseren (Leidens-)Weg mitgehen. Was einerseits sehr tröstlich ist. Was nicht tröstlich ist, ist die Tatsache, dass genau diese Menschen uns unter Umständen auch immer wieder dazu herausfordern, unser viel zu schweres Kreuz noch ein kleines Stückchen weiter zu schleppen, auch wenn wir es Gott am liebsten vor die Füße schmeißen würden.

Ich denke, ich bin so ein Mensch. Vielleicht durfte ich deshalb auch ohne überwältigende Leiderfahrungen durch mein Leben gehen, damit ich die Kraft habe, anderen in ihrem Leid beizustehen. Um ihnen im Auftrag Gottes auf die Nerven zu gehen und sie so lange zu zwiebeln, bis sie ihr Kreuz hochhieven und es noch ein Stückchen weiter auf ihrem Lebensweg entlang zu bugsieren. Oder ich durfte bisher ohne überwältigendes Leid durch mein Leben gehen, damit ich die Kraft habe, das Kreuz anderer ein Stückchen tragen zu helfen, wenn sie es nicht mehr alleine können.

Jorgos Canacakis thematisiert die Begleitung in der Trauer in seinem Buch übrigens auch ganz stark. Trauere immer mit anderen, sagt er. Oder übertragen auf das Leid im Allgemeinen: Versuche nicht, dein Leid alleine zu (er-) tragen. Die Überschrift seines zweiten Kapitels lautet: „Zu zweit werden wir der Trauer mit weniger Angst begegnen.“ In Kapitel 4 heißt es: „Trauere immer mit anderen.“ Und in Kapitel 6: „Mitmenschen brauchen deine Hilfe, wenn sie trauern.“

Das ist ein Thema, das auch schon im Hiobbuch vorkommt. Hiob ist nicht alleine. Da sind die drei Freunde, die seine Trauer, seinen Schmerz, seine Hilflosigkeit und das empfundene Leid gemeinsam mit ihm aushalten. Sie können nicht ungeschehen machen, was Hiob passiert ist. Sie können auch nicht dafür sorgen, dass das ganze Elend einfach aus Hiobs Herzen verschwindet. Dazu reden sie auch noch eine Menge Mist, bei dem Versuch, eine Erklärung dafür zu finden, was Hiob durchmachen muss: Wenn du so etwas Furchtbares erlebst, musst du große Schuld auf dich geladen haben. 

Was nicht der Fall ist. Gott bestraft Hiob nicht für etwas, das er verbockt hat. Hiob verliert nicht seine Frau, seine Kinder und sein ganzes Hab und Gut, weil er sich von Gott abgewendet hat. Im Gegenteil. Hiob bleibt Gott immer treu. Das ganze Hiobbuch hat übrigens genau diesen Zweck: Den sogenannten Tun-Ergehen-Zusammenhang aufzubrechen. Die gläubigen Menschen damals glaubten, dass es ihnen gut ergeht, wenn sie Gutes tun und schlecht, wenn sie Schlechtes tun. So funktioniert das Leben aber nicht und das Buch Hiob macht genau das deutlich.

Die Freunde von Hiob reden also ziemlichen Mist und könnten sogar dafür sorgen, dass es Hiob noch schlechter geht, weil nun zu dem ganzen Leid auch noch Schuldgefühle dazukommen. Aber das ist in diesem Moment gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie da sind. Sie sind bei ihm und sie lassen ihn in seinem Elend nicht allein.

Und das ist die gute Nachricht. Heute steht sie nicht im Predigttext selbst, sondern im Kontext. Der Predigttext ist absolut hoffnungslos. Er ist so hoffnungslos, dass da nur die Ansage an Gott bleibt: Lass mich doch einfach in Ruhe!

Wenn wir bis ans Ende des Hiobbuches blättern, dann finden wir heraus, dass Hiobs Geschichte ein Happy End hat. Zumindest in Ansätzen, denn seine Frau und seine Kinder bekommt Hiob nicht zurück. Aber Gott schenkt Hiob neues Glück in Form einer neuen Familie und neuer materieller Reichtümer.

Für viele Menschen auf dieser Welt hat ihre Geschichte allerdings kein Happy End. Das Leid geht nicht weg und es wird einfach nichts wieder gut.

Im Laufe meines Lebens bin ich einigen dieser Menschen begegnet, sowohl privat als auch als Pastorin. Wobei man das heute eigentlich kaum trennen kann. So einige Menschen haben mir ihr Leid anvertraut. Manchmal hörte ich mir „nur“ ihre Geschichte an, manchmal hatte ich die Chance, sie als Seelsorgerin zu begleiten, manchmal auch nicht. 
Manchmal habe ich sie am Ende bestattet und manchmal habe ich versucht, Hinterbliebene zu trösten. Immer hatte ihre Geschichte kein Happy End. Aber meistens hatte ihre Geschichte das „Happy“ irgendwo mittendrin und nicht am Ende. Meistens haben sie doch noch ein bisschen Glück und Freude in ihrem schweren Leben entdecken können. Weil sie nicht allein waren! Weil andere Menschen da waren, die geholfen haben, das Kreuz zu tragen oder die einfach nur da waren und das Schwere mit ausgehalten haben wie die Freunde von Hiob.

Von diesen Menschen kann ich lernen: Auch wenn kein Happy End in Sicht ist, kann das Leben auszuhalten sein, wenn wir es nicht alleine durchstehen. Und wenn wir es nicht alleine durchstehen, sondern zusammen mit Menschen, die es gut mit uns meinen, dann können wir mit dem Leben auch mehr anfangen als es einfach nur auszuhalten. Wer möchte denn sein Leben einfach nur aushalten?

Gott ist da und wir sind füreinander da. Wenn wir uns gemeinsamdem Leid stellen, dann besteht die Chance, dass wir tatsächlich die kleine Portion Lebensfreude finden, die das Leben lebenswert macht.

Darin liegt die Hoffnung in all der Hoffnungslosigkeit.

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