Einfach mal das Gegenteil tun




Predigt am 10.11.2019  zu Lukas 6, 27-38

Ihr Lieben,

was da von uns im Lukasevangelium verlangt wird, ist eine Methode aus der Psychotherapie mit dem Namen „Paradoxe Intervention“. Was soviel heißt wie „Widersprüchliches Eingreifen.“ Man tut das Gegenteil von dem, was das Gegenüber erwarten würde. 

Ich habe dazu ein nettes Beispiel für euch aus einem Film, den ich gestern Abend gesehen habe: „Die Tribute von Panem“, Teil 1.

Der Film spielt irgendwann in der Zukunft. Nordamerika ist inzwischen ein Land, das in 12 Distrikte aufgeteilt ist und durch eine Diktatur regiert wird. Ausbeutung der Bevölkerung ist an der Tagesordnung. Einen Aufstand hat es schon gegeben, der aber niedergeschlagen wurde. Als Mahnung und um weitere Aufstände zu verhindern, gibt es die sogenannten Hungerspiele, einen Wettkampf auf Leben und Tod, zu dem aus jedem Distrikt ein junger Mann und eine junge Frau entsandt werden. Am Ende gewinnt, wer es geschafft hat zu überleben.
Aus Distrikt 12 nehmen Katniss und Peeta an den Hungerspielen teil. Sie schaffen es, dem ersten Gemetzel zu entgehen und schlagen sich erfolgreich in der Arena durch. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer gelten sie als ein tragisches Liebespaar, weil ja nur eine Person überleben kann.
Als nur noch wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Leben sind, werden plötzlich durch den Spielleiter die Regeln geändert.
Es heißt auf einmal, es könne zwei Gewinner geben, die aber beide aus demselben Distrikt stammen müssten. Die Regeln wurden geändert, damit das Paar zusammen bleiben kann. Alles für die Zuschauerinnen und Zuschauer.
Katniss und Peeta haben nun Hoffnung, dass sie die Hungerspiele gemeinsam überstehen. Als nur noch die beiden übrig sind, wird aber die Regeländerung zurückgenommen und es heißt, dass es doch nur einen Sieger oder eine Siegerin geben kann. Peeta bittet Katniss, ihn zu töten, damit sie nach Hause zurückkehren und sich um ihre Familie kümmern kann. Katniss lehnt dies ab und schlägt stattdessen einen Doppel-Selbstmord vor, damit es gar keinen Gewinner gibt. Als beide kurz davor sind, giftige Beeren zu schlucken, wird die letzte Regeländerung zurückgenommen. Nun kann es doch wieder zwei Sieger geben.

Der versuchte Selbstmord war in diesem Fall die paradoxe Intervention, das widersprüchliche Eingreifen. Erwartet hätten die Veranstalter der Hungerspiele, dass es zwischen den beiden einen Kampf auf Leben und Tod gibt, weil der Überlebenswille doch so groß ist. Katniss und Peeta tun aber das, was niemand erwartet und sie haben damit den Teufelskreis der Gewalt durchbrochen.

Wir können also dem „Feind“ den Wind aus den Segeln nehmen, indem wir das Gegenteil von dem tun, was der erwarten würde. In der Psychotherapie wird die paradoxe Intervention als ziemlich erfolgreiche Methode angesehen.
 Wenn wir uns jetzt aber den Text aus dem Lukasevangelium ansehen, dann heißt es dort nicht nur, dass wir auf eine widersprüchliche Art eingreifen können. Wir sollen es sogar.

Jesus sagt uns, dass wir Schikanen nicht nur hinnehmen und passiv erdulden, sollen, sondern er möchte, dass wir aktiv handeln. Was auch irgendwie Sinn, macht, denn dadurch durchbrechen wir die Spirale der Gewalt.
Unser erster Impuls ist vermutlich zurückzuschlagen, wenn uns wehgetan wird, egal, ob das nun körperliche oder seelische Verletzungen sind, die uns zugefügt werden. Unser Gegenüber wird das nicht auf sich sitzen lassen und langt erneut zu. Dann wieder wir. Am Ende will ja jede/r der / die Stärkere sein, will Recht haben.
Wenn wir also zurückschlagen, löst das ganz schnell eine Spirale der Gewalt aus. Der Plan aber doch, die Gewalt zu beenden. Also: Auf ganz widersinnige Weise eingreifen.

Und jetzt kommt das große ABER:
Aber das ist in manchen Situationen sehr schwer bis unmöglich.

Nehmen wir zum Beispiel die Reichspogromnacht am 9. November 1938: Ein widersinniges Eingreifen als Antwort auf Gewalt und Mord an Jüdinnen und Juden kann es auf diese Weise nicht geben.
Kurz zur Erklärung: Die Novemberpogrome im Jahr 1938 waren von den Nationalsozialisten organisierte, unterstütze und selbst durchgeführte Gewaltmaßnahmen gegen Jüdinnen und Juden. Vom 7. bis zum 13. November 1938 wurden Synagogen, jüdische Geschäfte und jüdische Wohnungen angezündet und etwa 800 Jüdinnen und Juden ermordet, davon 400 am 9. November. In der Nacht des 9. November eskalierte die Gewalt.

Die Menschen hätten daraufhin ja schlecht losgehen können und sagen „Cool, ihr zündet Synagogen an, dann zündet doch auch gleich die Kirchen mit an, denn Jesus war schließlich auch Jude. Nachdem, was uns die Bibel heute erzählt, wäre das allerdings eine richtige Maßnahme gewesen. Nicht die Gewalt still erdulden. Sich aber auch nicht gegen die Gewalt wehren. Sondern mitmachen. Die Nazis nehmen sich Synagogen, geben wir ihnen die Kirchen noch mit dazu. Gruselig, oder?
Das kann natürlich überhaupt nicht infrage kommen. Wir können uns ja nicht an der Gewalt beteiligen, um dem ganzen Schrecken ein Ende zu bereiten, auch wenn es am Ende funktionieren würde. 

Ich frage mich allerdings, ob die Novemberpogrome vielleicht hätten verhindert werden können, wenn es vorher schon eine ganze Reihe kleinerer paradoxer Interventionen an den richtigen Stellen gegeben hätte …

Dass paradoxe Intervention tatsächlich funktioniert weiß ich aus eigener Erfahrung, besonders aus der Seelsorge. Leider kann ich euch aufgrund der pastoralen Verschwiegenheitspflicht keine Beispiele nennen. Aber es gibt andere, sogar öffentliche Beispiele:
In seinem Buch „Mönch und Krieger“ erzählt der Liedermacher Konstantin Wecker (geb. 1947) von einer besonderen Begegnung Mitte der 90er-Jahre. Auf seinen Konzerten wurde er damals von einem schwarzafrikanischen Chor aus Kamerun unterstützt. In dieser Zeit erreichte ihn die Anfrage, ein Jugendzentrum in Ostdeutschland zu besuchen, wohlwissend, dass dort die meisten Jugendlichen rechtsradikalem Gedankengut nahestanden. Wecker entschied sich, den Besuch gemeinsam mit zwei seiner Freunde aus Kamerun anzutreten. – Die Atmosphäre war feindselig. Nach einigen eher belanglosen Wortgefechten überraschte Konstantin Wecker dann alle Anwesenden, als er einen der Wortführer fragte, ob er bereit sei, einen der beiden Schwarzafrikaner in den Arm zu nehmen. Die Reaktion war nicht überraschend. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck gab der Jugendliche zur Antwort: „Nie. Ich nehme keinen Schwarzen in den Arm.“ Unter allgemeinem Gelächter rief ein anderer Jugendlicher Konstantin Wecker zu: „Du würdest einen von uns doch auch nicht in den Arm nehmen.“ – Wecker reagierte spontan. Er ging auf den jungen Mann zu, nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich. Die Anwesenden verfolgten diesen Moment mit atemloser Stille. – In die Stille hinein sagte der Jugendliche den Satz, der sich tief in das Gedächtnis von Konstantin Wecker eingebrannt hat: „Das hat in meinem Leben noch nie jemand gemacht.“ (nacherzählt von Henning Strunk)
 (Quelle: Werkstatt für Liturgie und Predigt, Ausgabe 9-2019, S. 345f)

Ein weiteres öffentliches Beispiel ist das Ende der Diktatur in der DDR und der Mauerfall am 9.November 1989. Ausgelöst wurde das nämlich durch eine paradoxe Intervention: die friedlichen Montagsdemonstrationen in der damaligen DDR.
„70 000 Menschen schreiben mit ihrem Mut Geschichte. Ihr friedlicher Widerstand bricht der Staatsmacht das Kreuz. „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet“, bekennt Jahre später Horst Sindermann vom SED-Zentralkomitee und fügt hinzu: „nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Wie wir sehen, lohnt sich also, dass wir es mit dem „Widersinnigen Eingreifen“ versuchen. Es muss ja nicht gleich in einem geschichtsträchtigen Ereignis enden.
Vielleicht probieren wir es erstmal im Kleinen. Vielleicht versuche ich einfach mal, dem Menschen, der mich da gerade geärgert oder mir das Leben zur Hölle gemacht hat, auf nette Weise zu begegnen (anstatt ihm / ihr eine reinzuhauen). Vielleicht lade ich diesen Menschen einfach mal zum Kaffee ein, oder wir unternehmen zusammen etwas. Und vielleicht dauert das dann auch etwas, bis ich mich dazu aufraffen kann, weil ich erst meinen inneren Schweinehund überwinden muss. Das ist völlig okay. Ich glaube, Jesus hat schon, gewusst, dass es uns mit der Umsetzung seiner Forderungen nicht leichtfallen wird. Aber einen Versuch ist es in jedem Fall wert. Denn am Ende kommt vielleicht doch ein geschichtsträchtiges Ereignis dabei raus. Am Ende verändern wir vielleicht doch die Welt.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Team Welt

Whistleblower

Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen