Wantok System



Predigt am 14.06.2020 zu Apostelgeschichte 4, 32-37


Ihr Lieben!

Es ist jetzt über zwanzig Jahre her, dass ich ein knappes halbes Jahr in Papua-Neuguinea zubringen durfte, um das Land, die Menschen, deren Kultur und das kirchliche Leben dort kennenzulernen. Womit ich während dieser Zeit auch Bekanntschaft machte, war das sogenannte „Wantok System“. Wantok ist ein Wort aus der Sprache, die in Papua-Neuguinea gesprochen wird, Neomelanesisches Pidgin, und bedeutet „Freund“. Wörtlich übersetzt heißt es eigentlich „eine Sprache“ und bezieht sich auf die Menschen eines Stammes, die eine gemeinsame Sprache sprechen. Darüber hat sich dann die Bedeutung erweitert auf die persönlichen Beziehungen.

Meine persönliche Erfahrung mit dem Wantok System war diese: Ich rauchte damals noch und saß gerade mit ein paar einheimischen Frauen draußen unter ein paar Bäumen zusammen und wir unterhielten uns. Irgendwann kramte ich meine Zigarettenschachtel raus, weil ich eine Zigarette rauchen wollte. Da sah mich eine der Frauen an und fragte: Willst du nicht teilen? Ich sagte: Ja klar! und hielt ihr die Schachtel hin. Die anderen hatten vorher signalisiert, dass sie nicht wollten. Ich erwartete, dass die Frau, die mich angesprochen hatte, sich eine Zigarette aus der Schachtel nehmen würde. Stattdessen nahm sie sich etwa die Hälfte der Zigaretten, die in der Schachtel waren. In dem Moment war ich natürlich ziemlich irritiert. Später, als ich wusste, was es mit dem Wantok System auf sich hat, begriff ich, was da vonstatten gegangen war. Die Zigaretten gehörten nicht mir, sondern sie gehörten allen. Und deshalb wurden sie gerecht verteilt. So einfach war das.

Später berichtete mir ein Missionar, der irgendwo im Busch in der Nähe eines Dorfes der Einheimischen lebte, dass eines Tages das für die Missionsstation neu erworbene Auto weg war. Was ein echtes Problem darstellte, denn nur mit dem Auto konnte man die ganzen entlegenen Dörfer erreichen und zum Beispiel Medikamente dorthin bringen.
Irgendwann stand das Auto dann ziemlich ramponiert wieder vor dem Haus des Missionars. Er fand heraus, dass jemand aus dem Dorf das Auto „gestohlen“ hatte. Aus dem Dorf sah das aber niemand als Diebstahl an, denn wenn die Missionstation ein Auto anschafft, dann gehört das schließlich allen. Und alle können es nutzen. Wantok System!

Auch innerhalb einer Dorfgemeinschaft kann man das Wantok System immer wieder erleben. Wenn eine Familie zum Beispiel Schweine besitzt, dann gilt sie als reich. Zu besonderen Anlässen werden Schweine immer mal wieder geschlachtet und es gibt ein Festessen. Aber nicht nur für die Familie, der das Schwein gehört, sondern das ganze Dorf bekommt etwas davon ab. Wantok System!

Das ist im Grunde genau das, was uns die Apostelgeschichte erzählt:

„Keiner betrachtete etwas von seinem Besitz als sein persönliches Eigentum. Sondern alles, was sie hatten, gehörte ihnen gemeinsam.“

Ganz ehrlich: Ich wünsche mir so sehr, dass das überall auf der Welt umgesetzt wird! So sieht für mich Gerechtigkeit aus. So sieht Nächstenliebe aus. Wir sorgen füreinander, indem wir das, was wir besitzen, gerecht verteilen. Und wenn wir das schaffen, dann sprechen wir tatsächlich alle eine gemeinsame Sprache – völlig unabhängig von dem Land in dem wir leben oder von der Kultur, der wir angehören: Die Sprache der Menschlichkeit nämlich.

Wir hier in unserem Land sind da schon auf einem guten Weg, dadurch, dass wir Steuern zahlen. So teilen wir zumindest einen Teil dessen, was wir haben, mit denen die weniger oder gar nichts haben. Mein Steuerberater sagte mal zum Thema Steuern: „Sieh es mal so, das Geld ist ja nicht weg. Es ist nur woanders.“ Was für mich total okay ist, wenn davon diejenigen versorgt werden, die nichts haben und die sonst nicht über die Runden kommen würden.

Allerdings ist die Verteilung immer noch ungerecht, wie wir gerade jetzt während der Corona Pandemie sehen.

In der Apostelgeschichte heißt es: „Er legte das Geld den Aposteln zu Füßen. Davon erhielt jeder Bedürftige so viel, wie er brauchte.“

Bei uns sieht es gerade so aus: Sie legten dem Staat die Steuern zu Füßen. Davon erhält die Lufthansa 9 Milliarden Euro. Aber die Hartz 4 Empfängerin weiß nicht, wie sie in Corona Zeiten ihre fünf Kinder versorgen soll. Die haben sonst wenigstens im Kindergarten oder in der Schule eine warme Mahlzeit bekommen, aber wenn Kindergarten und Schule wegen Corona ausfallen, dann fällt auch die warme Mahlzeit aus. 

Und ja: Natürlich weiß ich, dass es auch bei der Lufthansa um Arbeitsplätze und Existenzen geht, die durch dieses Hilfspaket gesichert werden. Trotzdem sind wir von einer gerechten Verteilung unserer Güter weit entfernt. Wir sind weit entfernt von dem, was die Apostelgeschichte da beschreibt: „Davon erhielt jeder Bedürftige so viel, wie er brauchte.“

Bei uns erhält nicht jede oder jeder Bedürftige, was er oder sie braucht.

Und das muss sich ändern, wie ich finde. Und das kann sich ändern, wenn alle mitmachen. Aber leider gibt es ein paar wenige, die sehr viel hätten, was sie abgeben könnten, es aber nicht tun. Die reichsten 10 Prozent unserer Bevölkerung besitzen über 50 Prozent des gesamten Vermögens. Da frage ich dann: Wollt ihr nicht teilen?!

Oft wollen sie nicht, sondern verschieben ihre Finanzen auf Bankkonten im Ausland, um hier keine Steuern zahlen zu müssen.
Das ist kein Wantok System. Das ist Egoismus, wie ich finde.

Ich habe mich immer gefragt, warum es eigentlich so ist, dass gerade die Superreichen nicht teilen wollen. Psychologen begründen das damit, dass sie durch ihr Vermögen die Freiheit haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Sie sind nicht auf andere angewiesen. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass man sich gegenseitig hilft, weil sie sich ja alles kaufen können. Bei armen Menschen ist das genau umgekehrt und deshalb geben sie auch viel bereitwilliger etwas ab von dem wenigen, das sie besitzen.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde, das muss sich ändern. Die Frage ist nur: Wie? 

Die Situation lässt sich ändern, wenn wir alle es den Menschen immer und immer wieder ins Bewusstsein rufen: Ziel ist es, ein Wantok System zu schaffen. Am besten weltweit. Ich habe keine Ahnung, ob wir das hinbekommen können, aber mich lässt es hoffen, dass es Menschen, Firmen, Konzerne gibt, die da schon einen Anfang gemacht haben. 

Ich sehe mir immer wieder gerne einen amerikanischen Nachrichtensender an, in dem von Unternehmen berichtet wird, die helfen:
Eine britische Autofirma unterstützt zum Beispiel Arbeiterinnen und Arbeiter, die in Pandemie-Zeiten an vorderster Front tätig sind mit Fahrzeugen und Schutzvisieren. Aber wir haben solche Hilfen auch vor der Haustür. Ein großer Chemiekomzern hat eine Aktion mit dem Namen „Helping Hands“ (Helfende Hände) gestartet, seine Produktion umgestellt und beliefert nun Krankenhäuser mit Desinfektionsmittel. Der Konzern will dabei helfen, die Verfügbarkeit zu sichern. Das sind zwei sehr schöne Beispiele für ein Wantok System.

Solche Aktionen müssen nur immer und immer wieder publik gemacht werden, in der Hoffnung, dass sie auch andere dazu inspirieren, helfende Hände zu sein. Dazu können aber auch wir unseren Teil tun, indem wir immer und immer wieder rumnerven und fragen: Willst du nicht teilen?!
Das dürfen wir und das müssen wir auch. Wir müssen das einfordern, was eine gerechte Verteilung ermöglicht.

Und wer weiß: Vielleicht haben wir dann wirklich irgendwann ein weltweites Wantok System, das dafür sorgt, dass jeder und jede Bedürftige so viel erhält, wie er oder sie braucht. Vielleicht haben wir wirklich irgendwann ein Wantok System, das dafür sorgt, dass wir als Weltbürger alle eine Sprache sprechen: Die Sprache der Menschlichkeit.

Ich jedenfalls gebe die Hoffnung nicht auf!




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