Mein eigener Weg

 


Predigt am 24.01.2021 zu Rut, 1, 1-19a

 


Ihr Lieben,

 

ich weiß nicht, wie oft es im wahren Leben vorkommt, dass eine Braut ihren Bräutigam einfach vor dem Altar stehenlässt. Ich habe es immerhin schon erlebt, dass die Braut drei Monate nach der Trauung die Scheidung eingereicht hat, weil sie sich eigentlich vor der Hochzeit schon in einen anderen verliebt hatte und sich nicht traute, die Hochzeit abzusagen. Aber das Vor-dem-Altar-stehenlassen ist wohl doch eher was für Kinofilme oder Fernsehserien.

 

Eine solche Serienfolge habe ich gerade gesehen. Die Serie heißt „Anne with an E“ und basiert auf dem Roman „Anne auf Green Gables“, den Lucy Maud Montgomery 1908 schrieb. 

 

In besagter Folge lässt eine Mitschülerin von Anne ihren Bräutigam vor dem Altar stehen, nachdem der ihr zuvor verboten hatte, nach ihrem Schulabschluss aufs College zu gehen und zu studieren. Es sei die Pflicht einer Ehefrau, ganz und gar für ihren Mann dazu sein. Der Lebensentwurf von Prissy, so heißt das Mädchen, sieht aber anders aus und sie bringt gerade noch rechtzeitig den Mut auf, diesen Lebensentwurf auch umzusetzen. Ganz im Gegenteil zu ihrem Bräutigam. 

 

Das charmante an dieser Entwicklung ist nämlich, dass der Bräutigam eigentlich homosexuell ist, was er sich aber nicht eingestehen will. Jetzt dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass ein Ausleben dieser Homosexualität damals noch verboten war und unter Strafe stand. Das Einsetzen für Frauenrechte nahm da immerhin schon Fahrt auf.

Die Zeiten haben sich inzwischen zum Glück geändert. Frauen dürfen studieren und wir sind auch nicht mehr auf eine heterosexuelle Ehe festgelegt.

Neulich erklärten zwei kleine Kinder im Internet ganz selbstverständlich: „Männer können Männer heiraten. Und Frauen können Frauen heiraten.“ Dann kam die Frage der Mutter: „Können auch Männer Frauen heiraten?“ Antwort: „Ja.“

 

Aber ganz am Ziel sind wir leider noch nicht. Es gibt zwar die Ehe für alle, aber es herrscht immer noch unglaublich viel Druck von außen, wenn es darum geht, bestimmten Vorstellungen zu entsprechen. Wir spüren diesen Druck, aber wir üben ihn auch selbst aus. Wir alle haben unsere eigenen Vorstellungen und oft sind wir ziemlich diktatorisch, wenn es um die Meinung, die Vorgehensweise oder die Lebensweise anderer geht. Wenn wir ehrlich sind, fällt es uns oft schwer, etwas einfach nur als anders anzusehen, anstatt es für falsch zu halten.

 

Da gibt uns die Erzählung aus dem Buch Rut ein gutes Beispiel dafür, wie es eigentlich sein sollte, besonders, weil dort beide Perspektiven vertreten sind: 

Rut steht für den Menschen, der den Mut aufbringt, sein oder ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. 

 

Eigentlich sah zu Ruts Zeit der gesellschaftliche Druck etwas ganz anderes für sie vor: 

Als Witwe hatte sie niemanden, der für sie sorgt und es drohten ihr Obdachlosigkeit und Armut. Also besser in der Heimat bleiben und einen neuen Ehemann finden. Aber Rut möchte einen neuen, einen eigenen Weg gehen und sie wählt nicht die Sicherheit einer neuen Ehe, sondern geht mit Noomi, weil das das für sie richtige ist, weil eine liebevolle Beziehung sie mit Noomi verbindet.

Und Noomi akzeptiert Ruts Entscheidung am Ende auch und nimmt sie mit. Sie versucht nicht, Rut ihre eigene Vorstellungen überzustülpen, auch wenn sie anfangs der Meinung ist, Rut sollte nicht mitkommen.

Hier finden wir den Mut für eigene Entscheidungen und für ein eigenes Leben auf der einen Seite und die Offenheit und Annahme auf der anderen. Beides sollten auch wir uns zu eigen machen.

 

Wie gut das funktioniert, hat mir der Umgang miteinander in einer Runde von Pastorinnen und Pastoren gezeigt: Es gab unterschiedliche Ansichten zu der Frage, ob an Weihnachten die Gottesdienste abgesagt werden sollen. Aber diese unterschiedlichen Ansichten wurden vorbehaltlos akzeptiert. Es gab kein richtig oder falsch. Es gab nur: Wir machen das so. Und: Wir machen das anders. Niemand wurde für seine / ihre Ansicht verurteilt. Es wurde respektvoll und offen miteinander umgegangen. Alle hatten den Mut den für sie richtigen Weg einzuschlagen und alle hatten genauso die Offenheit, den Weg der anderen zu akzeptieren, wenn der in eine andere Richtung führte. So viel Offenheit und Annahme in Bezug auf eine andere Meinung habe ich in dieser Pandemie selten erlebt.

 

Damit es noch mehr solcher schönen Erfahrungen gibt, wünsche ich uns Ruts Mut und Kraft und Noomis Bereitschaft zur Annahme.

 

Jetzt gibt es allerdings, wie ich finde, noch eine dritte Perspektive: die von Gott. Und die ist durch beide Frauen verkörpert. 

 

Einerseits macht Gott, was er oder sie will und schert sich nicht um vorgefasste menschliche Meinungen und Erwartungen. Gott tut, was Gott für richtig hält, genau wie Rut es macht.

 

Aber Gott erkenne ich auch in dem Verhalten von Noomi: Da ist diese Liebe zu einem Menschen, der ihr anvertraut ist und der Wille, diesen Menschen, ohne Wenn und Aber mitzunehmen. Auch Gott akzeptiert uns so wie wir sind, akzeptiert unsere eigenen Lebensentwürfe und nimmt uns so mit, wie wir sind.

 

Das bedeutet: Wir würden uns dann trauen, die Sicherheit alter Glaubensstrukturen hinter uns zu lassen und neue, eigene Wege zu gehen. Wir hätten damit die Möglichkeit, neue Dinge kennenzulernen und neue Perspektiven zu entwickeln. Wenn wir das Rut-Noomi-Schema für unseren Lebensplan umsetzen, dann trauen wir uns, auf dem Weg mitzugehen, den Gott geht. Und Gott sagt: Großartig! Dann nehme ich euch doch einfach mit - ohne Wenn und Aber!

 

Ich finde, damit haben wir eine weitere Motivation, es den beiden Frauen nachzumachen, denn damit machen wir nicht nur unsere eigene kleine Welt zu einem besseren Ort, sondern die ganze große auch.




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